“Eine romantische Definition von Erfolg.”
Interview mit Tim Leberecht für den Werte-Index 2016
„Gib alles. Messe nichts. Mehr bedeuten“ lautet die Zusammenfassung von Tim Leberechts Buch „Business-Romantiker: Von der Sehnsucht nach einem anderen Wirtschaftsleben“. Im Mittelpunkt steht darin die Forderung, unternehmerisches Handeln nicht ausschließlich an messbaren Kennzahlen auszurichten. Im Interview spricht Tim Leberecht auch darüber, welche Herausforderungen und Chancen sich für Unternehmen und Menschen ergeben.
Herr Leberecht, Ihr Buch „Business-Romantiker“ ist eine Aufforderung, mehr Gefühl und Leidenschaft in der Wirtschaft zuzulassen. Was meinen Sie genau?
Meine Aufforderung ist sogar noch etwas radikaler und greift das Gedankengut der ursprünglichen romantischen Bewegung aus dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert auf: Novalis, Eichendorff oder Brentano, sowie die britischen Romantiker wie Keats, Wordsworth oder Shelley. Es geht mir nicht darum, das zu tun, was man liebt oder, das was man tut, zu lieben, sondern um eine romantische Haltung zum Arbeitsplatz und zur Wirtschaft im allgemeinen. Diese beruht auf Qualitäten wie Ambiguität, Gefühlsbetontheit, Intuition und Vorstellungskraft, auf einer spirituellen Verbundenheit mit der Natur sowie Transzendenz – dem Glauben, dass die empirisch messbar, objektive Wahrheit nicht die alleinige Wahrheit ist, und dass es dahinter immer noch andere Welten zu entdecken und zu erleben gilt.
Mit anderen Worten: Romantik bedeutet den Glauben an verborgene Tiefenschichten, an das Heilige im Profanen, das Besondere im Mondänen. Es ist eine Geisteshaltung, die dem typischen Modus Operandi des Wirtschaftens diametral entgegengesetzt ist. Wirtschaft will effizient, vernunftbasiert und rational sein; sie ist explizit, berechenbar und – trotz der protestantischen Ethik und anderer im Religiösen verankerter Antriebe – fast immer säkularisiert. Oft ist sie auch einfach nur vulgär. Genau diesen vermeintlichen Gegensatz finde ich spannend.
In Deutschland ist der Begriff „Romantik“ aus historischen Gründen etwas suspekt. Und in den Unternehmen sind Gefühle wie Sehnsucht ziemlich verpönt. Das Marketing versteht es zwar, Konsumgüter und Dienstleistungen so zu „verpacken“, dass sie bewusst die Sehnsüchte der Verbraucher ansprechen, aber von unseren Arbeitsplätzen haben wir Sehnsucht, und jegliche andere Form von starken Gefühlen, geschweige denn von Sentimentalität, weitgehend verbannt.
Das ist ein schwerwiegender Fehler. Wir verbringen als Wissenarbeiter mehr als 70% unserer wachen Stunden mit Arbeit, jedoch sind nur 30% aller Arbeitnehmer weltweit „engagiert“ bei der Arbeit (in Deutschland ist der Anteil „engagierter“ Arbeitnehmer zwar etwas höher, aber trotzdem immer noch besorgniserregend gering). Was sind die Gründe dafür?
Zum einen erfahren wir eine Ökonomisierung – und dadurch Trivialisierung – aller unserer Lebensbereiche, die zu einer generellen Kapitalismus-Müdigkeit führt, und angesichts von schlüssigen Alternativen oft im inneren Exil oder in Zynismus mündet.
Darüber hinaus denke ich, dass wir wieder ein Zeitalter der „Entzauberung“ (Max Weber) erleben, wie schon vor 200 Jahren im Zuge der aufklärerischen Vernunft, und dann vor 100 Jahren im Zuge von wisssenschaftlichem Management, Bürokratisierung und Taylorismus. Diesmal ist es eine moderne Form von Taylorismus, der die Arbeitswelt und unsere Gesellschaft entzaubert. Weil es der Grundimpuls von Big Data, Automation und künstlicher Intelligenz ist, alles quantifizierbar und berechenbar zu machen, programmieren wir systematisch die Romantik aus unserem Arbeitsleben, beziehungsweise aus unserem Leben.
Ich glaube, dass wir wieder mehr Sehnsucht in unserer Gesellschaft brauchen – und mehr Romantik in unserer Wirtschaft. In unserer algorithmischen Leistungsgesellschaft der Maximierung und (Selbst-)optimierung ist Romantik nicht nur der ultimative Ausdruck unseres Menschseins, sondern auch das ultimative Alleinstellungsmerkmal für Unternehmen.
Welche Auswirkungen hat das auf die Definition von Erfolg für Unternehmen? Inwiefern ist hier eine Neudefinition in Unternehmen notwendig?
Die Definition von Erfolg hat sich in den letzten Jahren ja schon gewaltig verändert. Finanzielle Kriterien und Shareholder Value alleine reichen nicht mehr, es wird jetzt von Unternehmen erwartet, dass sie mit ausgeprägtem Bürgersinn (als „corporate citizen“) dem Gemeinwohl dienen und Sozial- und Umweltbewusstsein demonstrieren.
Im anglo-amerikanischen Raum spricht man von der „Triple Bottom Line“. In den letzten Jahren ist auch zunehmend die Rede von Work/Life-Balance, einem ausgeglichenerem Arbeitsleben, das genügend Raum lässt für Familie und Privatleben. Die europäischen Länder haben in dieser Hinsicht sicher einen kulturbedingten Vorsprung vor den USA, wo die Mehrheit der Erwerbstätigen ihren vollen Urlaubsanspruch nicht wahrnimmt, um ja nicht am Arbeitsplatz Nachteile zu erleiden oder in der Hackordnung zurückzufallen.
In Silicon Valley, der Hochburg der Selbstoptimierung und des Genug-ist-nicht-genug-Lifestyles, ist zudem gerade „Mindfulness“ ziemlich en vogue, eine Bewegung, die mit der „Search Inside Yourself“-Initiative von Google-Mitarbeitern begann und jetzt zu mehreren einflussreichen Konferenzen und Communities von Gleichgesinnten angewachsen ist. „Mindfulness“ bietet Balsam für die Seele und beruht auf der nachgewiesenen positiven Korrelation von mentaler Ausgeglichenheit und Produktivität. Es geht kurz gesagt darum, Spiritualität und Wohlbefinden in die Arbeit zurückzubringen, und zwar durch Meditation, Yoga und Anleihen beim Buddhismus.
Das ist begrüssenswert, aber für Romantiker geht das nicht weit genug. Für sie bedeutet unternehmerischer Erfolg Abenteuer und Spannung, sowie die Entdeckung von anderen, unerschlossenen Welten. Romantik ist für sie ständige Erneuerung und Innovation, persönliche Weiterentwicklung sowie der Ausdruck einer Unternehmenskultur, die Momente höchster emotionaler Intensität ermöglicht und aktiv fördert. Dazu kommen Schönheit und Bedeutung: Romantiker betrachten das Unternehmen als die wohl wirkungsmächtigste gesellschäftliche Institution des 21. Jahrhunderts. Sie verstehen es nicht nur als Gewinnmaximierer, sondern als Produzenten von Sozialkapital, nicht nur als Verbraucher von Humankapital, sondern als deren Erzeuger. Märkte sind, wie der amerikanische Philosoph Robert Solomon einst schrieb, vor allem „symphatische Gemeinschaften für sozialen Austauch“.
Zwar mag die Vollzeitanstellung in einem Unternehmen in der On-Demand Economy und angesichts von Automation zukünftig an Relevanz verlieren (die Unternehmensberatung McKinseyschätzt, dass im Jahr 2025 Maschinen die Arbeit von 140 Millionen Wissensarbeitern leisten können; Marktforschungsinstitut Gartner erwartet sogar, dass ein Drittel aller Arbeitsplätze durch Automation ersetzt werden). Arbeit wird dennoch weiterhin der grosse gesellschaftliche Rahmenvertrag, der grosse Katalysator bleiben, und umso wichtiger ist es, das wir für eine Form der Arbeit kämpfen, die unser Menschsein respektiert, im Sinne des materiellen, physischen und psychischen Wohlergehens, aber eben auch hinsichtlich unseres spirituellen und emotionalen Reichtums.
Romantische Unternehmen verteidigen und feiern die Komplexität des Menschen, anstatt sie für eine eindimensionale Sicht von Leistung preiszugeben. Dies erfordert ein radikales Umdenken, weg von einer instrumentalistischen Sicht hin zu einem Ansatz, der nicht alles einer finanziellen Rendite unterordnet. Der „Return on investment“ von mehr Romantik in der Wirtschaft? Mehr Romantik!
Inwiefern ändert sich das „Daily Business“ ganz konkret in einem romantischen Unternehmen? Für eine Führungskraft? Für einen Mitarbeiter?
Für Führungskräfte bedeutet Business-Romantik ein Betriebsklima zu schaffen, das Emotionen zulässt und immer auch Alternativen zu einer rein analytischen, datenbasierten Kultur ermöglicht. Romantische Führungskräfte zeigen sich verwundbar; sie begreifen sich als “Wanderer in der Nebellandschaft“, um ein romantisches Motiv zu zitieren, und nicht als „Masters of the Universe“. Sie sind nicht mehr die allwissenden Helden, sondern bescheidene Gefühlsmenschen, die ihrem Bauchgefühl, ihrer Intuition mindestens ebenso trauen wie ihrem Verstand. Sie erleben und leben vor, sie inspirieren und reissen mit, und überzeugen nicht nur mit rationalen Argumenten, sondern mit ihrer Hingabe. Sie begeistern und sind begeisterungsfähig. Sie können Fehler eingestellen und sich selbst und anderen das Recht einräumen, nicht immer der- oder dieselbe zu sein und Inkonsistenzen und Brüche zu akzeptieren. Sie wissen, dass sie eigentlich keine Kontrolle haben. Sie müssen nicht alles kodifizieren und formalisieren, sondern lassen Mehrdeutigkeit zu, auch das Unausgeprochene. Sie schaffen Raum für Intimität, für authentische Momente und Erfahrungen.
Es gibt viele solcher romantische Führungskräfte, vor allem in den höchsten Chefetagen, wo in vielen Firmen mehr breit gebildete Humanisten sitzen als man vielleicht gemeinhin annimmt. Zwei prominente Vertreter sind Howard Schultz, der Chairman und CEO von Starbucks, und Emmanuel Faber, seit Herbst 2014 CEO des globalen Nahrungsmittelkonzerns Danone. Schultz steht für eine wertebasierte Art des Wirtschaftens, für liberale politische Haltungen, aber auch für Initiativen wie z.B. die jüngste, sehr kontroverse „Race Together“-Kampagne, in der Starbucks die Baristas in seinen US-Filialen dazu aufrief, mit den Kunden ein Gespräch über Rassismus zu initiieren. Schultz gab zu, der Marktanalayse keine Beachtung geschenkt zu haben, sondern bei „Race Together“ allein seiner Überzeugung gefolgt zu sein. Und obwohl die Aktion zunächst zu einem „Shitstorm“ auf den sozialen Medien führte (weil es viele Kunden als taklos empfanden, von meist weissen Barristas zu einem politischen Gespräch gedrängt zu werden), gab ihm der Markt schliesslich recht. Die folgenden Quartalsergebenisse zählten zu den besten in der Geschichte von Starbucks.
Emmanuel Faber machte sich bei Danone einen Namen mit dem Launch der Danone Communities, einer wegweisenden „Social Business“ Platform, für die er unter anderem Mikrokredit-Nobelpreisträger Muhammad Yunus gewinnen konnte. Aber Faber ist vor allem ein Feingeist, ein hochsensibler Business-Romantiker, der hinter der Fassade der Märkte und der Welt der klaren Unternehmensstrategien immer noch eine andere, eine ästhetische, philosophische und spirituelle Wahrheit vermutet (sein Buch, „Chemins de Traverse“, leider bisher nur im Französischen erschienen, ist äusserst lesenswert). Ich hatte das Privileg dabei zu sein, als Faber im Juli in Paris das neue Firmenmanifesto von Danone launchte. Das Besondere daran: es handelt sich um ein interaktives „Open Manifesto“, das von den weltweit 100.000 Mitarbeitern von Danone über einen Zeitraum von einem Jahr mitgeschrieben werden soll. Der Kontrollverlust ist sozusagen bereits im Design angelegt, und Fabers Lust an diesem Experiment mit offerem Ausgang ist unverkennbar – und zutiefst romantisch.
Bei den Fussball-Trainern ist der Unterschied zwischen Romantikern und Pragmatikern vielleicht noch deutlicher: Pep Guardiola oder Jürgen Klopp sind ganz klar Romantiker, Felix Magath oder auch Joachim Löw sind Pragmatiker. Beide Typen sind auf unterschiedliche Arten erfolgreich, aber das unbedingte Charisma der Romantiker schafft neben dem Ergebnis eben noch viele andere Mehrwerte: Unterhaltung, Inspiration und die konstante Herausforderung, die eigene Position zu überdenken. Wir respektieren Pragmatiker, aber wir lieben Romantiker – und brauchen mehr davon.
Für romantische Mitarbeiter gilt es im Umkehrschluss, Führungskräfte wie Schultz oder Faber zu unterstützen und ihnen auch dann einmal zu verzeihen, wenn sie sich irren beziehungsweise in eine Sackgasse verrennen.
Aber auch im eigenen Arbeitsalltag können Mitarbeiter ganz bewusst business-romantische Elemente einbauen: zum Beispiel durch kleine Rituale, die die Routine durchbrechen und dem unweigerlichen Zynismus vorbeugen, der Studien zufolge bei Angestellten im Duchschnitt nach etwa sechs Monaten in einer neuen Firma oder in einer neuen Rolle eintritt.
In meinem Buch präsentiere ich sogenannte „Regeln für Business-Romantiker“ sowie ein Einsteigerpaket, das konkrete 15 Schritte vorschlägt. Die Regeln reichen von „Gib mehr als du nimmst“ zu „Hüte das Geheimnis“ zu „Tu so, als ob“ bis hin zu „Steh still und tue nichts.“ Alle diese Regeln hinterfragen typische Konventionen. Mit „Hüte das Geheimnis“ zum Beispiel wende ich mich gegen den Glauben, dass Transparenz immer gut ist und zeige auf, wie kleine Geheimnisse und Rätsel die Phantasie auf Trab halten. Letztlich geht es bei allen Regeln darum, das Vertraute wieder fremdartig, ja sogar etwas seltsam zu machen, so wie es Künstler tun. Kleine Manipulationen, kleine „Hacks“, kleine Tabubrüche wirken da buchstäblich Wunder.
Spielen wir einmal einen (un)typischen romantischen Arbeitstag durch: Anstatt direkt ins Büro zu gehen, können Sie jetzt erstmal tanzen gehen. Daybreaker macht’s möglich. Es ist eine Art Pop-Up Club, der Sie – jetzt auch in Deutschland – dazu einlädt mit Hunderten anderer um 6:30 Uhr morgens erst einmal ausgelassen zu tanzen. Ekstase vor der Effizienz, sozusagen. Auf dem Weg zur Arbeit sprechen Sie dann Fremde in der U-Bahn an. Eine Studie der Universität Chicago hat ergeben, dass dies ein ausserordentliches Glücksgefühl erzeugt.
Diese Form der „kleinen Grenzerfahrung“ die Sie ein bisschen aus Ihrer Wohlfühlzone puscht, können Sie dann im Büro fortsetzen: Tauschen Sie den Arbeitsplatz, vielleicht sogar die Rolle. Die Bank Credit Suisse hat zum Beispiel einen Grossteil ihres Büros in Zürich einen Co-Working Space umgewandelt, was bei der Belegschaft sehr gut ankam. Der US-Online-Händler Zappos designt seine Räumlichkeiten ganz bewusst für sogenannte „people collisions“ – zufällige Begegnungen am Arbeitsplatz. GitHub, eine Softwarefirma in San Francisco, ermutigt ihre Angestellten gemeinsam zu wohnen und neue Städte kennenzulernen, und in Teams von Venedig oder Montevideo aus zu arbeiten. Das stärkt den Teamgeist und die persönliche Weiterbildung. Und der Motivation schadet es anscheinend auch nicht.
Oder laden Sie einen Kollegen zum Mittagessen ein, den Sie noch nie getroffen haben.Überraschen Sie ihn oder sie mit einem „zufälligen Akt der Freundlichkeit„ („random act of kindness“), so wie das die holländische Airline KLM gemacht hat mit spontanen Geschenken für Reisende am Flughafen oder jetzt auch Airbnb, das seine Kunden für „random acts of hospitality“ belohnt. Unterbrechen Sie Ihre Arbeit für 15 Minuten für einen guten Zweck – eine Studie belegt, dass Sie sich produktiver und zufriedener fühlen.
Anstelle von Telefonkonferenzen führen Sie „dichte Tage“ ein, die Sie nur mit einem Kollegen oder einer Kollegin verbringen, ohne von „dünnen Formaten“ wie Team-Meetings und Email abgelenkt zu werden. Unterrichten Sie von Kollege zu Kollege, über Themen wie Tangotanzen, Filme und andere Hobbies (so macht das die Etsy School des E-Ommerce-Anbieters Etsy). Richten Sie eine Art Geheimbund ein, der Ihnen und Ihren Kollegen erlaubt, bestehenden Pratiken in Frage zu stellen und eine Art Gegen-Realität zu Ihrer Firma zu entwerfen, die unter anderem das Denken der Konkurenz simuliert und Andersdenken eine Forum bietet für radikale Ideen.
Feiern Sie das Ende von Projekten, aber gönnen Sie sich und Ihren Kollegen etwas Zeit, bevor sie sich aufs nächste stürzen. Überhaupt, in einer Zeit, in der Ideen und Projekte zunemend zum Strukturprinzip des Organisationsdesigns werden, kann es nicht schaden, Projekte als romantische Geschichten zu begreifen, mit Spannungsbögen, und eigentlich, wenn wir ehrlich sind, auch immer mit offenem Ausgang, trotz unserer Versuche, alles zu berechnen und vorherzusehen.
Die Analyse für den Werte-Index zeigt, dass die User immer häufiger von ihren persönlichen Erfolgen (vor allem kleine Alltagserfolge) erzählen. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass das Gefühl der Selbstwirksamkeit – die Fähigkeit, durch das eigene Tun einen Unterschied zu machen – in unserer hoch-komplexen Welt immer wichtiger wird. Was halten Sie davon? Welche Rolle spielt dieses Konzept in der Business-Romantik?
Das finde ich sehr interessant und passt in der Tat gut zu meiner These von der Wiederkehr der Romantik. Romantik ist ja dem Wesen nach eine sehr individualistische Haltung: der Einzelne feiert vor allem seine Subjektivität, sein ganz persönliches Weltempfinden (oft auch Weltschmerz). Das Gefühl der Selbstwirksamkeit – mit Betonung auf „Gefühl“ – ist eine natürliche Reaktion auf eine immer komplexere Welt, in der die Wahrheit rein datenbasiert sein muss, oder als solche nicht mehr existiert. Der Rest bleibt diffus oder eine Grauzone. Das hat zur Folge, dass wir uns in eine neue Innerlichkeit zurückziehen und in private Welten flüchten, sei es durch Gaming, Virtual Reality, oder eben unsere eigenen Gefühlswelten. Der Romantiker will immer woanders sein.
Es gibt Studien, die besagen, dass wir die Mehrheit unserer wachen Stunden in imaginären Welten verbringen – solche, die uns Unterhaltungsmedien produzieren oder einfach nur unsere eigenen Fantasien und Gedankenausschweifungen. Business-Romantiker bekennen sich dazu, sind aber deswegen keine Einzelgänger oder Eremiten. Sie lieben den Austausch mit anderen, leben vom Konflikt und dem Drama. Das „Zwischenmenschliche“ ist ihnen allerdings geläufiger als der ganz grosse strategische Hebel. Intimität und Nähe sind ihre bevorzugte Handlungs-und Wandlungseinheiten.
[Sie sprechen sich dagegen aus, alles in einem Unternehmen messbar und kontrollierbar zu machen.] Wenn Unternehmen ihre Erfolge nicht mehr messen: Wie wissen ihre Entscheider dann, ob sie erfolgreich bzw. auf dem richtigen Weg sind?
Auch die besten Kennzahlen und Key Performance Indicators sind letztlich nur eine Simulation der Realität, die uns die Illusion geben in Kontrolle zu sein. Aber das sind wir letztlich natürlich nie. Wir sind auf dem richtigen Kurs – bis wir es nicht mehr sind. Seit Menschengedenken versuchen wir die Welt zu vermessen und somit zu stabilisieren und zu kolonialisieren, und trotz aller unserer Bemühungen schlittern unsere Gesellschaften und Institutionen von einer Krise zur nächsten, und so verwundert es auch nicht, dass von den Fortune 500-Unternehmen in 1955 in 2014 nur noch 11% auf der Liste waren.
Die Krise 2008 und 2011 waren eine Chance endlich einmal holistischer zu denken, und nicht nur neue Werte (wie z.B. Glück, Wohlergehen) als Richtgrössen der Marktgesellschaft zu messen, sondern tatsächlich auch wieder das schätzen zu lernen, was wir nicht messen können. Ein ganz grosser und entscheidender Teil unseres Menschseins – unermessliche Sehnsucht, Hoffnung und Liebe – findet ausserhalb von Daten und Zahlen, ausserhalb von analytischen Instrumenten, und auch ausserhalb der Rationalität statt, aber leider lassen wir diesen Teil in der Wirtschaft, am Arbeitsplatz, leider meistens aussen vor.
Die Fixierung auf „Man kann nur das managen, was man misst“ hat allerdings auch innerhalb der Business-Logik negative Konsequenzen. Kundenzufriedenheit und Loyalität (Net Promoter Score), Umsatz und Rendite sind notwendige Kennzahlen, alles weitere ist im Grunde nur Bürokratie, die den unternehmerischen Geist und die Innovationsfreude drosselt.
Ich kenne Marketingabteilungen, die 50% ihrer Zeit damit verbringen, ihre eigene Performance zu messen, was für mich eine groteske Ineffizienz darstellt. Die Resourcen wären viel sinnvoller eingesetzt im Rahmen von kreativen Projekten und Experimenten oder auch in der Kundenkommunikation. Der Grund für diese Obsession mit der Quantifizierung ist die weitverbreitete Angst vor der eigenen Ersetzbarkeit, die dann zum Druck des permanenten Wertnachweises führt.
Diese Angst ist jetzt durch Automation, Robotik und künstliche Intelligenz noch einmal exponentiell gestiegen. Wir konkurrieren sowohl mit den menschlichen Kollegen, vor allem im Bereich der Kreativität und des sozialen Einflusses, aber jetzt eben auch mit den Maschinen, hier vor allem im Bereich der Analyse und des Task Managements. Im menschlichen Bereich erfahren wir zunehmend den Stress, Wahrnehmungen und unsere eigene Reputation zu managen: wir werden immer mehr dafür respektiert, wer wir sind, und nicht unbedingt dafür, was wir leisten. Werte, Charakter, Persönlichkeit, Kollaborationsfähigkeit und andere Qualitäten gewinnen an Bedeutung, und eher extrovertierte Erwerbstätige sind hier wohl im Vorteil.
Im Wettbewerb mit den Maschinen fühlen sich viele schon als Gejagte (denken Sie nur an die Mitarbeiter von Logistik-Dienstleistern wir FedEx oder UPS, die mit ihren Telematik-Systemen die Aussendienstmitarbeiter auf Schritt und Tritt überwachen und jegliche Abweichung, jegliche menschliche Ineffizienz bestrafen). Menschliche Handlungsfähigkeit und Autonomie sind schlichtweg unerwünscht, und der Mensch wird zur Maschine reduziert, und kann bei diesem Vergleich eigentlich nur verlieren.
Dieses Phänomen des „Digitalen Taylorismus“ erstreckt sich auf fast alle Wissensarbeiter. Die Unternehmenskultur von Amazon – zuletzt durch einen kritischen New York Times-Artikel stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt – ist sicher das prominenteste Beispiel dafür: alles, aber auch wirklich alles, wird gemessen, von den Laufwegen zwischen Konferenzräumen, den Beiträgen in Meetings, der Anzahl und Länge von Emails. Das einzige, was Amazon nicht interessiert ist, wie sich die Mitarbeiter – extern oft auch spöttisch „Amabots“ genannt – fühlen. Im Sinn einer brutal-darwinistischen, auf reiner Effizienz ausgerichten Kultur gilt jegliche menschliche Regung als Zeitverschwendung, und Amazon versucht auch noch, diese inhumane Kultur als innovations- und karrierefördernd zu verkaufen: nur die besten Ideen und Mitarbeiter überleben, nach der Losung: wer es hier schafft, schafft es überall; Amazon als die ultimative Prüfung für den ambitionierten, hochbegabten und hart arbeitenden Wissensarbeiter.
Leider ist dies nur die Spitze des Eisbergs und die „Amazonisierung“, die Atomisierung des Arbeitslebens unter Ausschluss von uns selbst, ist schon weit fortgeschritten und hat viele andere Unternehmen infiziert. Nehmen Sie das Recruiting. Ich wurde zum Beispiel neulich um eine Referenz gebeten von einer ehemaligen Kollegin, die sich anderswo für einen neuen Job beworben hatte. Ich erwartete eine Email von dem einstellenden Manager, oder zumindest von der Personalabteilung des betreffenden Unternehmens, mit der Bitte um eine Würdigung und Stellungnahme zu meiner ehemaligen Kollegin. Stattdessen emailte man mir eine „SkillSurvey“ mit einer Liking-Skala von 1-6 und 20 Qualitäten, die ich bewerten sollte. Das ganze, so hiess es in der Email, würde nur 5 Minuten dauern. 5 Minuten für einen qualifizierten Kommentar! Was mich noch mehr störte war jedoch die Art der Bewertung: die 20 Qualitäten waren 20 Dimensionen des Job-Profils, runtergebrochen im Stile einer multivariaten Analyse. Nuancen? Fehlanzeige. Die Online-Bewertung, getrimmt auf optimale Zeitnutzung, bewirkte bei mir, dass ich faul wurde und mir noch weniger Zeit nahm für die Bewertung und alle Aspekte schnell mit voller Punktzahl bewertete. Platz für Zwischentöne gibt es bei einem solchen Verfahren kaum, und es ist erschreckend, einen Job als eine reine Auflistung mechanistischer Aspekte zu begreifen. Es war so, als ob ich einen Rasenmäher bewertete.
Oft ist sogar schon so, dass Kandidaten gar nicht mehr die Chance auf eine Bewertung durch einen Menschen haben, weil sie im Bewerbungsverfahren schon den ersten Algorithmus-Filter nicht passieren, der ihr Profil auf passende Schlüsselbegriffe scannt. Dieses „algorithmic hiring“ ist schon sehr weit verbreitet, und es führt zu einer weiteren Dehumanisierung der Arbeitswelt.
Das romantische Unternehmen ist also, etwas überspitzt gesagt, ein Anti-Amazon und schafft immer auch Raum für Intuition, Kreativität und Mehrdeutigkeit. Es erlaubt seinen Mitarbeitern Entscheidungen auch gegen besseres Datenwisssen zu treffen, nur aus dem Bauch heraus. Und es erlaubt seinen Mitarbeitern Zeit zu verschwenden: denn genau das ist die Quelle der Innovation. Innovation ist immer zunächst Zeitverschwendung.
Es wäre einmal interessant zu überlegen, ob man für diese Exzesskapazität, diesen Überschuss an Ideen und Innovation, nicht auch einen „Share Economy“-Marktplatz schafft: einen Mechanismus, der ungebrauchte oder abgelehnte Ideen anderen Firmen anbietet, die diese dann abrufen können. Dies wird sicher nicht mit allen Ideen möglich sein, schon aus Konkurrenzgesichtspunkten nicht oder aufgrund rechtlicher Überlegungen. Aber für einige ungenutzte „Restideen“ mag es in der Tat ein attraktives Szenario sein. Ein ähnliches Business-Model gibt es übrigens schon im Bereich des Recruiting, Die deutsche Firma Moberries bietet eine Plattform an, die es Unternehmen ermöglicht, Job-Bewerber, die nicht eingestellt wurden, gegen eine Kommisison an andere Firmen weiterzuempfehlen.
Ähnlich problematisch sehe ich übrigens auch die Planung und die Tatsache, dass wir einen Grossteil unserer Zeit in Unternehmen mit Planen verbringen. Der beste Plan ist doch der, der uns erlaubt, ständig neue Pläne zu machen. Also im Grunde: kein Plan. Auch hier ist der Romantiker im Vorteil. Er macht und fühlt, aber plant nicht, sondern lässt sich überraschen und passt sich den ständig wandelnden Umständen an. Bei einem Workshop, den ich kürzlich für IBM geleitet habe, beobachtete einer der Teilnehmer denn auch interessanterweise eine Affinität zwischen Romantik und den mittlerweile weitverbreiteten sogenannten „agilen“ Methoden bei der Software-Entwicklung. z.B. Scrum.
Märkte bewegen sich immer schneller und Beziehungen sind hochkomplex, so dass ein logischer, linearer Plan schlichtweg nicht mehr das effektivste Management-Instrument darstellt. Spontanität und Impulsivität sind Trumpf. Nur eines ist schneller als Information in Echtzeit: Intuition. Sie ist immer einen Schritt voraus.
Alternative Erfolgsmodelle für Unternehmen (z. B. Creating Shared Value, Gemeinwohlökonomie) setzen darauf, auch soziale und ökologische Erfolgsfaktoren messbar und damit für das Management relevant zu machen. Ist das sinnvoll oder zu wenig romantisch?
Das ist sinnvoll, und ich begrüsse, das wir neue, alternative Definitionen von Wertschöpfung einführen und messen – das ist im Sinne einer ganzheitlicheren Wirtschaft. Mir geht es nicht darum, Messung an sich in Frage zu stellen. Ich will keine emotionale Willkür, sondern ein smartes, emotional intelligentes Untenehmen. Ich reibe mich nur, den unternehmerischen Erfolg einzig über finanzielle Kennzahlen zu definieren. Ein Unternehmen ist eine soziale Organisation und eine Sinnfabrik, die uns „narrative Identitäten“ anbietet, sowohl über das Marketing als auch die Unternehmensphilosophie- und kultur. Es soll sich auch der Schönheit und dem (Kennen-)Lernen verschreiben, nicht nur der Nützlichkeit.
Unsere Messgrössen hingegen erfassen meist nur die „harten“ Werte“. Nehmen Sie Twitter: Wall Street ist nicht besonders glücklich mit den Schwierigkeiten des Kommunikationsdienstes seine Plattform zu monetisieren und zu skalieren. Aber Twitter hat es geschafft die Welt zu verändern, unsere Art zu kommunizieren neu zu erfinden! Es hat eine eigene Sprache geschaffen und fungiert als eine einzige grosse Empathie- und Gefühlsmaschine, mit allen positiven und negativen Aspekten, die damit verbunden sind, im Sinne der „phatischen“ Kommunikation: Kommunikation um der Kommunikation willen. Wir müssen Wege finden, dies zu würdigen, entweder durch alternative Finanzmärkte- und Instrumente oder marktunabhängige Investoren und Mittel.
Romantik ist allerdings nicht 100% identisch mit Gemeinwohl, Shared Value oder ökologischen Erfolgsfaktoren. Romantik ist vor allem eine Weltanschauung und eine experientielle Qualität, keine Zielvorgabe. Als individualistische, zutiefst persönliche Erfahrung muss Romantik auch nicht unbedingt mit sozialer Verantwortung des Unternehmens einhergehen, und übrigens auch nicht unbedingt damit, das „Richtige zu tun“. Allerdings hat Romantik durchaus eine moralische Qualität: Vorstellungskraft und Fantasie, die Möglichkeit einer anderen Welt, den Respekt vor der subjektiven Wahrheit sind alles Eigenschaften, die Empathie fördern, die das Andere und den Anderen, das Fremdartige und den Fremden, als Bereicherung verstehen.
Der Romantiker ist kein Idealist, zumindest nicht nur. Der Antrieb des Idealisten ist die Sehnsucht nach einer besseren Welt. Für den Romantiker ist es die Sehnsucht nach einer anderen Welt, oder vielleicht stärker noch: die Sehnsucht nach der Sehnsucht.
Tim Leberecht ist ein international angesehener Management-und Marketing-Experte mit Schwerpunkt auf digitaler Transformation. Er ist Autor des Buches „Business-Romantiker: Von der Sehnsucht nach einem anderen Wirtschaftsleben“ (Droemer-Knaur, 2015) und der Gründer der Business Romantic Society. Er ist ausserdem Mitglied des Global Agenda Council on Values des Weltwirtschaftsforums.
Dieses Interview erschien zunächst im Werte-Index 2016.