“Ein innovatives Geschäft muss eigenartig und unberechenbar bleiben.”
Tim Leberecht im Interview mit dem AmStart Magazin
Tim Leberecht ist Autor, Unternehmer und Marketing-Vordenker. Seine Vorträge (u.a. TED, Re:Publica, SXSW, Zürcher Querdenkerforum) erfreuen sich grosser Beliebtheit und mit „Business-Romantiker“ landete er einen internationalen Bestseller.
Hunderte von Firmen bieten Marketing-Analyse, -Planungs- und Automatisierungs-Tools an. Sie hingegen plädieren für Intuition und Romantik. Irren sich die alle?
Sie liegen nicht falsch, aber es ist etwas einseitig, sich nur auf Automation und Analyse zu verlassen. Ich bin diesen extrem effektiven Technologien gegenüber nicht abgeneigt. Aber wir leisten täglich so viel mehr, als sich messen lässt. Das Wunder des Lebens ist nicht bloss eine einfache ökonomische Gleichung. Ein innovatives Geschäft muss eigenartig und unberechenbar bleiben.
Welche persönlichen Erfahrungen und Entwicklungen führten Sie zu Ihrer jetzigen Sichtweise?
Ich habe zwei Seelen in mir, eine künstlerische und eine rationale. Ich wollte immer Schriftsteller oder Filmemacher werden, landete aber schlussendlich im Marketing. Und ich war ziemlich gut darin, mir ein entsprechendes Business-Auftreten anzueignen. Die Zusammenarbeit mit Investoren vor ein paar Jahren öffnete mir die Augen. Sie betrachteten wirklich die ganze Welt wie eine Kalkulationstabelle. Sie hatten keine Ahnung von unserem Business, unserer Kultur und unseren Werten – und damit zerstörten sie einen beachtlichen Wert. „Die Welt ist nicht eine Maschine, sondern ein Garten“, sagte Eric Liu. Diese Erkenntnis führte mich dazu, Geschäftsentscheidungen anders zu fällen. Zu meiner Überraschung reagierten meine Kollegen mit grossem Enthusiasmus. Ich hatte zwei grosse Offenbarungen: Ich bin ein Business-Romantiker. Und ich bin nicht der einzige!
Was würden Sie mir raten, um meinen Chef von einem Strategiewechsel in Ihrem Sinne zu überzeugen?
Versuchen Sie, die Prinzipen meines Buchen „Rules of Enchantment“ in Ihrem Betrieb zu implementieren und vor allem zu leben. Gute Argumente bewirken zwar Kopfnicken, doch Erfahrungen lassen die Herzen singen. Mitarbeiter, die sich voll entsprechend ihrer Persönlichkeit entfalten dürfen, werden höchstwahrscheinlich ihr Bestes geben bei der Arbeit. In einer Zeit, in der Roboter und Automation das meiste an Effizienzarbeit übernommen haben, müssen wir Menschen den grossen Vorteil ausspielen, dass wir Gefühle und Fantasie besitzen.
Wie können wir Romantik im Webdesign und ECommerce anwenden?
Webdesigner und E-Commerce-Anbieter sind die „Medizinmänner unserer Zeit“, deshalb tragen sie eine grosse Verantwortung. Die Wahrheit ist, dass es im Handel gar keine reine Transaktion gibt. Es ist ein Ritual, Austausch von Geschichten und Symbolen. Die Menschen wollen ein Gefühl von Dazugehörigkeit, Freude und Schönheit. Egal ob wir einen Flug buchen oder Bücher bestellen, handelt es sich schlussendlich um kulturelle Codes. Und nur die Marken, die diese verstehen, werden bei ihren Kunden das erreichen, was alle wollen: Loyalität. Effizient, Personalisierung oder Benutzerfreundlichkeit sind doch eigentlich nur das Minimum. Viel interessanter ist der emotionale Wert. Firmen wie Airbnb oder Slack haben die Kunst perfektioniert, mit Erlebnissen das Kundenvertrauen zu maximieren. Persönlich statt personalisiert.
Zu guter Letzt: Glauben Sie, dass unserer Gesellschaft ganz allgemein der Sinn für Romantik fehlt?
Ja, kein Zweifel. Es macht den Eindruck, als wollen wir die Romantik gänzlich aus unserer Gesellschaft wegprogrammieren. Ähnlich wie im 19. Jahrhundert, als Industrialisierung und Bürokratie überhandnahmen. Unsere Menschlichkeit steht gar auf dem Spiel. Ereignisse wie der Brexit zeigen, dass Emotionen Argumente übertreffen in unserer „post-fact society“. Wirtschaftlicher Wohlstand muss mit menschlichem Glück einhergehen. Romantik, der Glauben dass da mehr ist, der Wunsch nach einem tieferen Sinn, ist der Quellcode der Hoffnung und entscheidende Motor des Fortschritts unserer Zivilisation.
Dieses Interview erschien zunaechst im CS2 AmStart Magazin.