„Beam Me Up, Boss“ – Virtuelle Realität, Silicon Valley, Hollywood und die Zukunft der Arbeit
Tim Leberecht blickt in seiner Kolumne Silicon Values in die Zukunft.
von Tim Leberecht
Big Data gegen Big Magic
Mitten in diese Spannung hinein platzt nun mit Virtueller Realität (VR) ein Technologiemix, der gleichermaßen Effizienz und Transzendenz, praktischen Nutzen und Eskapismus verspricht. Wie sonst nur Gaming bringt Virtual Reality Storytelling ins Herz der Tech-Szene und und damit ein Stück Hollywood. Im Valley arbeiten sie fieberhaft daran, die Welt kleiner zu machen, sodass alles smart, „lean“ und berechenbar ist. In Hollywood produzieren sie die großen Alternativwelten. Hier ist maximales Plattform-Engagement das Zauberwort, dort sind Geschichten die Plattform. Hier Big Data, dort „Big Magic“. Virtual Reality ist die Brücke zwischen beiden Kulturen.
Und hier wie dort planen sie nun großangelegte VR-Launches. Ob HTC Vive,Facebooks Oculus Rift, Samsung Gear VR, Sony PlayStation VR, Microsoft HoloLens,Google Cardboard, und wohl auch Apple, oder spezialisierte private Anbieter wie Magic Leap, Jaunt VR, Leap Motion, Matterport oder Valve – Virtual Reality, so prophezeien viele Experten, wird dieses Jahr zum Massenphänomen werden. Eine Studie der Investment-Bank Piper Jaffray beziffert das Marktpotential für VR-Inhalte auf 5 Milliarden US-Dollar und den Markt für VR-Endgeräte sogar auf 62 Milliarden US-Dollar. Die Analysten nehmen an, dass im Jahre 2020 VR-Brillen so handlich sein werden wie Sonnenbrillen und die Content-Entwicklung für Verbraucher auf vollen Touren läuft. Facebooks Mark Zuckerberg prognostiziert, dass in absehbarer Zukunft 40 Prozent aller sozialen Interaktionen über VR-Plattformen erfolgen.
Es gibt keine Industrie, die nicht von VR profitieren würde
VR wird aber zunächst erst einmal im Enterprise-Bereich stattfinden und im grossen Maßstab prägen, wie wir zukünftig arbeiten werden.
Bei den industriespezifischen Anwendungen ist die Adaption am weitesten fortgeschritten. So führen VR-unterstützte, vernetzte Prozesse (Stichwort Industrie 4.0) – wie hier bei Audi aber auch im Mittelstand – bei der Fertigung bereits zu erheblichen Produktivitätsgewinnen. Telemedizin-Anwendungen erlauben Ärzten, Patienten-Ängste durch Simulationen abzubauen oder Informationen über VR-Geräte zu beziehen, um beide Hände für den chirurgischen Eingriff frei zu haben. Im Bereich der Architekur und des Bauwesens lassen sich bereits ungebaute Räume simulieren und betreten, womit Entscheidungen zeitnäher getroffen werden können, ohne viel Zeit am Reißbrett zu verlieren. Ähnliche „Previews“ werden auch der Immobilien- und Tourismusbranche helfen (Airbnb-Nutzer könnten zum Beispiel Wohnungen virtuell begehen) oder auch im Recruiting und Bildungsbereich zum Einsatz kommen (Bewerber könnten sich für oder gegen eine Uni oder einen Arbeitgeber entscheiden, nachdem sie ein Tag virtuell auf dem Campus verbracht haben). Und dann sind da noch die Unterhaltungsindustrie (siehe zum Beispiel Nokias Ozo, eine 60.000 US-Dollar teure VR-Kamera für „Prosumer“), der Einzelhandel (virtuelle Showrooms) oder Sportveranstaltungen. Es gibt keine Industrie, die nicht von VR profitieren würde.
Wo wir arbeiten wird an Bedeutung verlieren – und gewinnen
Einen noch stärkeren Kulturwandel werden aber Standard-Anwendungen auslösen, die es Wissensarbeitern ermöglichen, virtuelle Meetings abzuhalten oder in die Welt von Kollegen oder Kunden einzutauchen und dabei kontextuelle Daten abzurufen. Das Resultat wird ein räumlich und zeitlich vielschichtigeres Unternehmen sein, in dem jedes Meeting um sichtbare Meta-Ebenen und jeder Konferenzraum um virtuelle Informationsräume erweitert wird.
Anders als bei den rein industriespezifischen Anwendungen, bei denen Kostenersparnisse durch Effizienzgewinne im Vordergrund stehen, zielen Standard-Anwendungen vor allem auf humanes Kapital: die Motivation und das Engagement der Mitarbeiter. Zum einen wird die Arbeitsumgebung duch VR super-personalisiert, zum anderen wird die gefühlte kollektive Präsenz (real oder virtuell) zunehmen. Kollegen beim Arbeiten zuzuschauen, im selben virtuellen Raum zu sein, fördert Zusammenhalt, Empathie und Vertrauen. VR wird auch die „Gamification“ der Arbeit weiter beschleunigen. Durch Rollentausch, Wettbewerbe oder andere „Challenges“ gerät die Arbeitswelt immer mehr zur Spielwiese, zum Abenteuer-Parcours.
Natürlich bedeutet VR aber auch einen erhöhten Grad an Ablenkung. Wer sich jederzeit per HoloLens oder Oculus in fremde Welten beamen kann, der wird nur mit Mühe den Verlockungen eines digitalen Eskapismus widerstehen. FOMO (Fear-of-Missing-Out) wird zunehmen, ebenso der Stress durch Digital-Overload, und vielleicht auch Produktivitätseinbußen durch häufige Task-Unterbrechungen. Statt auf Facebook zu surfen, surfen Mitarbeiter eventuell ja dann einfach virtuell vor Hawaii. Personalabteilungen werden neue Richtlinien entwickeln müssen, die für Interaktionen im virtuellen Raum eine neue Etikette aufstellen.
Auch für Manager wird sich einiges ändern: VR wird das Arbeitsleben dramatisieren und Parallelwelten schaffen. Dies erfordert eine neue Art von Manager: größere Flexibilität und die Fähigkeit, problemlos zwischen verschiedenen Welten und Identitäten zu navigieren. Manager werden zu Choreographen, Dramaturgen und Kuratoren von VR-Welten, die Motivation, Kollaboration und Innovation stärken. Jeder Tag im Büro wird zum „Event“.
Microsoft, Facebook – oder Slack?
Wer hat die besten Karten, das VR-Enterprise-Segment zu dominieren? Neben Arbeitsplatz-Spezialisten wie WorldViz scheint Microsoft mit HoloLens bestens aufgestellt. Viele Experten glauben, das System sei besonders gut für die Arbeitswelt geeignet, und einige sagen bereits voraus, dass HoloLens zum PC des 21. Jahrhunderts werden wird.
Nicht ausser acht lassen sollte man aber auch Facebook, das mit seiner Facebook-at-Work-Initiative anstrebt, Facebook zur De-Fakto-Plattform auch für firmeninterne Interaktionen zu machen. Im Kampf um die Homepage des Intranet, bei dem sich Facebook sicher auch mit Slack messen muss, hat Facebook den Vorteil, dass die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben weiter aufweichen und gleichzeitig die soziale Plattform mit den meisten Privatnutzern zu sein.
Man muss kein Hellseher sein, um sich das „Endgame“ vorzustellen: eine rundum integrierte Social-VR-Kommunikation auf der Basis von Facebook-Profilen, Projekt- und Newsfeeds und Oculus-Brillen, die es Team-Mitgliedern ermöglichen, nathlos über alle Grenzen hinweg zu interagieren: Grenzen zwischen verschiedenen Büros, Meetings und Locations, aber eben auch zwischen Arbeit und Privatsphäre, eigentlicher und gewünschter professioneller Identität werden aufgelöst.
Ein frischer Blick auf die Arbeit
„Man darf gespannt sein, wie es nicht nur die Arbeitskultur weltweit, sondern auch die Kultur des Valleys selbst verändern wird.“
Mehr als andere Technologie-Innovationen der jüngsten Zeit hat Virtual Reality das Potenzial, als Kontrapunkt zu dienen gegen extreme Daten-Auswertung, totale Quantifizerung und (Selbst-)überwachung. Anders als das übliche Lean-Startup-Denken ist Virtual Reality „thick“ – es ermöglicht neue Bedeutungen und Identitäten und konfrontiert das Silicon Valley, das ja sonst immer alles wissen und explixit machen will, plötzlich mit alternativen Welten, multiplen Identitäten und unbequemen Mehrdeutigkeiten. Wie sonst nur die Kunst macht Virtual Reality das Vertraute fremdartig und das Fremde vertraut. Man darf gespannt sein, wie es nicht nur die Arbeitskultur weltweit, sondern auch die Kultur des Valleys selbst verändern wird.„Poesie heilt die Wundern der Vernunft“, schrieb der deutsche Romantiker Novalis einst. Virtual Reality kann unsere neue Poesie werden, am Arbeitsplatz und darüber hinaus. Wir sollten sie nutzen, um unsere Perspektive zu erweitern, für einen frischen Blick auf das Erleben und die Bedeutung von Arbeit in unserem Leben – anstatt einfach nur eine andere Brille aufsetzen, die uns innerhalb der alten Erfolgskonventionen produktiver macht.
Dieser Artikel erschien in der “Silicon Values” Kolumne von Tim Leberecht in t3n.