Comeback der Gefühle
von Markus Albers
Er hat keine Lust mehr, sagt Baumgartner. Er mag sie nicht mehr sehen, all die Kennziffern, Excel-Charts, Key Performance Indicators. Die Dashboards, Balanced Scorecards, P & Ls. Die Zielvereinbarungen, die eine Steuer- und Quantifizierbarkeit von Leistung nur vorgaukeln. Die Kurven, die in Verkaufspräsentationen sowieso immer nach oben zeigen. Baumgartner bestellt Sachertorte, eine Melange und stöhnt etwas zu theatralisch. Zahlen, sagt er, überall immer nur Zahlen. In Wahrheit, sagt er, entscheide ich am Ende doch immer aus dem Bauch heraus. Machen alle so, oder? Er schaut herausfordernd, wartet auf Widerspruch. Es kommt: erst mal die Torte.
Baumgartner ist Geschäftsführer eines österreichischen Mittelständlers. Irgendwas mit Verpackungen und Transportsicherheit. Das Geschäft läuft rund. Aber er dreht langsam durch, dieser Silicon-Valley-Wahnsinn macht ihn kirre. Alles muss neuerdings total quantifizierbar sein. Jede Entscheidung durch Zahlen abgesichert. Wo bleibt denn da der Unternehmergeist, die Intuition, die Inspiration? Ich nicke höflich und weise ihn auf den Schokoladenfleck am Mundwinkel hin. Baumgartner wischt unwirsch über die Wange, kippt die inzwischen vermutlich lauwarme Melange in zwei großen Schlucken runter, kommt jetzt erst richtig in Fahrt. Die Unternehmerpersönlichkeiten, sagt er, die nach dem Krieg unsere Wirtschaft groß gemacht haben, und eure in Deutschland, die hatten doch auch kein Excel. Und haben trotzdem Konzerne gebaut.
Stimmt irgendwie, aber dabei unterschlägt er natürlich die Professionalisierung des Managerhandwerks in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, die wahrscheinlich niemand so eloquent begleitet hat wie Peter Drucker, der US-amerikanische Ökonom österreichischer Herkunft, dem – möglicherweise zu Unrecht – das populäre Zitat zugeschrieben wird: „What gets measured gets managed.“ Und damals ahnte man noch nichts vom heutigen Quantifizierungswahn der Internetbranche.
Google gilt ja als das prototypische Unternehmen, in dem jede Entscheidung, jede Einschätzung, jede Meinung mit Zahlen belegbar sein muss. Interessanterweise kommen dabei dann aber durchaus irre Projekte heraus, wie selbst fahrende Autos, ein fliegendes WLAN-Netz aus Heißluftballons, oder der Versuch, mit vernetzten Computern das menschliche Gehirn zu imitieren. Google-Chairman Eric Schmidt beschrieb kürzlich, nach welchem Typ von Mitarbeitern sein Unternehmen suche, was deren „Googleyness“ ausmache. Er nannte nicht: Analysefähigkeit, mathematisches Verständnis oder Verliebtheit in Zahlen. Er nannte: Leidenschaft, Spaß und die Fähigkeit, Strategien immer wieder neu der Wirklichkeit anzupassen.
Vielleicht hat Baumgartner also recht. Vielleicht kippt bei uns gerade etwas. In der aktuellen Faszination für Big Data, Quantified Self und das, was McKinsey als neue „Data-Driven Strategy“ empfiehlt, übersehen wir womöglich, dass die vielleicht innovativste Firma der Welt zwar Messbarkeit wichtig findet. Aber eher als Basis, als Selbstverständlichkeit, als Schwarzbrot. Wirklich neue Ideen, Services, Produkte entstehen, nachdem man seine Hausaufgaben mit Excel-Tabellen gemacht hat. Dann aber gibt man eine gehörige Portion Irrationalität, Impulsivität, freie Assoziation dazu. Erst dieser Mix aus rationalem Räsonieren und sprunghaftem Spielen ist es, der Unternehmen heute wirklich erfolgreich macht.
So schlösse sich dann auch wieder der Kreis zur guten alten Bauchentscheidung von Baumgartners Unternehmerpersönlichkeiten. Für Manager heißt das: Sachlich können viele, Exzellenz aber kommt aus dem zusätzlichen Quäntchen Verrücktheit. Tim Leberecht, Marketingchef internationaler Designfirmen wie FROG und aktuell bei NBBJ, hat darüber gerade ein lesenswertes Buch mit dem Titel „Business-Romantiker“ (Droemer; 352 Seiten; 17,99 Euro) geschrieben. Er erzählte mir kürzlich, dass in den USA immer mehr Unternehmen fragen: Was ist unser Burning Man? Dass sie also – vergleichbar zu dem jährlich in der Wüste von Nevada stattfindenden anarchischen Musik- und Kulturspektakel – unorthodoxe Initiativen suchen, die provokativ sind und im besten Sinne romantisch. Was Unternehmen heute wirklich brauchen, sagt Leberecht, sind Wertearchitekten. Dabei geht es nicht nur darum, smart zu sein – das sind viele –, sondern wild und inspirierend.
In der Kinokomödie „Didi – Der Doppelgänger“ spielte Dieter Hallervorden 1984 einen Kneipier, der einem Immobilienspekulanten zum Verwechseln ähnlich sieht. Als der Wirt für einige Tage die Rolle des Unternehmers spielen muss, verdeckt er seine komplette Unkenntnis der Materie mit drei immer gleichen Floskeln, von denen die erfolgreichste lautet: „Ich brauche mehr Details.“ Die Angestellten verlassen nach diesem Satz stets das Chefbüro, um mehr Zahlen und Belege zu sammeln – und der falsche Vorgesetzte hat wieder seine Ruhe. Baumgartner liebt diese Szene, erzählt er, denn sie sagt alles über die vorgebliche Faktenmanie von Chefs. Ich, sagt Baumgartner, brauche nicht mehr Details, ich brauche mehr Gefühl. Und bestellt uns erst mal eine Marille.
Dieser Artikel erschien ursprünglich im Lufthansa Exklusive Magazin (PDF hier).