Das sind die neuen 4Ps im Marketing
Marken müssen weiter digitalisieren und gleichzeitig menschlicher werden. Die neuen 4Ps im Marketing heißen deshalb: Platform, Purpose, Passion und Play. Tim Leberecht erklärt, wieso.
von Tim Leberecht
Wer erinnert sich nicht an den klassischen Marketing-Mix bestehend aus den sogenannten 4P (Product, Price, Place, Promotion), der bereits 1960 von Jerome McCarthy erdacht wurde. Zwar hat sich das Konzept – über all die Jahrzehnte leicht gewandelt – als erstaunlich zeitlos erwiesen. Wenn aber Algorithmen an Algorithmen verkaufen, psychografische Profile trotz Datenschutz-Grundverordnung immer präziseres Targeting erlauben und Marken in puncto Kundenerfahrung sich zunehmend auch mit branchenexternen Dritten messen müssen, dann werden andere Aspekte gefragt sein.
Je mehr einerseits automatisiert wird, desto wichtiger werden andererseits Kundennähe und Customer Experience. Als Folge davon werden die Alleinstellungsmerkmale von Marken in Zukunft neben dem Plattform-Denken vor allem zutiefst menschliche Qualitäten umfassen: Sinnhaftigkeit, Leidenschaft und Spieltrieb. Oder, um den Vierklang der 4 P für die Zukunft neu zu stimmen: Platform, Purpose, Passion und Play.
Plattform muss sein
Zunächst aber muss erst mal weiter digitalisiert werden. Plattform-Denken bedeutet in der digitalen Wirtschaft, dass statt dem Kaufen das Nutzen im Vordergrund steht und so jedes Produkt zum Service wird. Kunden erwarten, dass eine Leistung 24 Stunden am Tag aktualisiert und von entsprechendem Kundensupport begleitet wird. Dabei können Datenanalysen und Machine-Learning helfen, die blitzschnell massive Sammlungen von Kunden- und Produktdaten auswerten.
Die sogenannte Predictive Maintenance, die man bereits aus Industrie 4.0-Anwendungen kennt, wie beispielsweise dem automatisierten Warten von „smarten“ Aufzügen oder anderen vernetzten industriellen Gütern, lässt sich auch auf Konsumgüter und Dienstleistungen übertragen. Wie es schon seit Jahren die spanische Modekette Zara tut, die ihre Shop-Sortimente ständig an die dynamische Nachfrage anpasst. Oder Fluglinien, die mit ihrem flexiblen, nachfragegesteuerten Yield Management die optimale Preiserhebung anstreben. Und natürlich Netflix oder Amazon mit ihren super-quantifizierten Netzwerken. So können auch Marken in anderen Industrien Daten in Echtzeit erheben und auswerten, um ihre Kundenbedürfnisse am effektivsten zu erfüllen.
KI-basierte Chatbots spielen dabei eine immer wichtigere Rolle. Eine Umfrage ergab, dass 86 Prozent der Millennials weltweit Chatbots für Marketingzwecke begrüßen und 58 Prozent der Befragten bereits eine positive Erfahrung mit einem Bot gehabt haben. Wenngleich in Deutschland die Bereitschaft für Chatbot-Dialoge vergleichsweise gering ist (zuletzt gaben immer noch 33 Prozent deutscher Nutzer an, sich eher nicht vorstellen zu können, mit einem Chatbot zu kommunizieren), ist es vermutlich nur eine Frage der Gewohnheit, bis die Bots auch hier breite Akzeptanz finden werden. Jene Kundencenter-Mitarbeiter, die bisher eher durch wenig kundenfreundliches Verhalten auffielen, werden es gegenüber der maschinellen Konkurrenz dann schwer haben. Andererseits ergeben sich somit neue Möglichkeiten für proaktive Service-Kräfte, die sich nicht immer an alle Regeln halten. Als Beispiel sei hier die Mitarbeiterin eines Mobilfunkunternehmens genannt, die mir vor ein paar Wochen bei einem Abrechnungsproblem half, indem sie einfach die betroffene Bank mit in unser Gespräch zu einer Dreierkonferenz einwählte – eine Initiative, die so sicher keine KI hätte ergreifen können.
Darüber hinaus sind Marken natürlich auch immer dann Plattformen, wenn sie durch die effiziente und nutzerfreundliche Verknüpfung von Angebot und Nachfrage Wert schaffen (das Geschäftsmodell von Sharing Economy-Akteuren wie Airbnb oder des europäischen Ridesharing-Anbieters Blablacar). Oder als Kurator von kongenialen Partnern als Teil eines größeren Ökosystems (z.B. Bestrebungen der deutschen Automobilhersteller, sich als Mobilitätsplattformen neu zu erfinden).
Nicht zuletzt können Marken auch im Innenverhältnis als Plattformen auftreten, die permanente Weiterbildung, flexible Strukturen sowie professionelle Netzwerke bieten, um ihre Mitarbeiter als Intrapreneure, als Binnenunternehmer, zu fördern. Dies lebt die Designagentur IXDS vor, die sich inzwischen als „Purpose Platform“ begreift und traditionelle Job-Titel und Organisationsstrukturen zugunsten des eigenverantwortlichen Projektarbeitens abgeschafft hat. Die Schnittstelle zwischen individuellem und unternehmerischem Purpose wird für alle Unternehmen immer wichtiger, um nicht nur Talente anzuziehen und langfristig zu binden, sondern auch intrinsisch motivierte, überzeugte und daher überzeugende Markenbotschafter in den eigenen Reihen zu kultivieren.
Vorsprung durch Haltung
Purpose bedeutet zwei Dinge: Eine Vision zu haben, das heißt, eine Vorstellung von einer besseren Welt, für deren Realisierung man brennt. Und entsprechende Werte, aus denen sich dann eine dezidierte Haltung speist. Visionsexpertin Priya Parker, Autorin des derzeit viel beachteten Buches „The Art of Gathering“, regt ihre Kunden dazu an, folgende Frage für sich zu beantworten: „Was ist der größtmögliche positive Wandel in der Welt, denn nur du Kraft deiner Fähigkeiten, Ressourcen und Leidenschaft bewirken kannst?“. Die Antwort darauf ist der Purpose des Unternehmens.
In einer zutiefst verunsicherten Welt mit fragmentierten Öffentlichkeiten undschwindendem Vertrauen in Institutionen und insbesondere auch die Medien sind Marken mehr denn je verpflichtet, als moralischer Kompass zu dienen. Tatsächlich können sie sich politisch kaum noch neutral verhalten, ohne an Glaubwürdigkeit einzubüßen. Gerade in Zeiten von Populismus, Demagogie und Fake News tun Marken gut daran, für etwas zu stehen und die Wahrheit zu sagen – als ihre eigene, sture Position in einer Gesellschaft, in der Positionen immer mehr rein interessengetrieben oder sogar austauschbar erscheinen.
Im Sinne eines solchen „Brand Stance“ haben Marken wie Airbnb, Patagonia, Starbucks oder zuletzt Nike mit der Kampagne um den Football-Spieler Colin Kaepernick in den USA klar gegen die Politik Donald Trumps Stellung bezogen. Hierzulande hat sich Siemens-CEO Jo Kaeser als ein unbequemer Mahner etabliert, der immer wieder zu gesellschaftlichen Themen Klartext spricht und vor Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit warnt, auch vor dem Hintergrund seiner eigenen Familienhistorie (sein Onkel wurde in Auschwitz von den Nazis ermordet, weil er sich weigerte, der Hitlerjugend beizutreten).
Es ist auch gut zu beobachten, wie Unternehmen wie Daimler oder Salesforce mit der Redi School of Digital Integration zusammenarbeiten, die Immigranten und Asylsuchenden Weiterbildungsprogramme zum Software-Entwickler anbietet und sie dann in Projekte mit deutschen DAX-Konzernen einbindet – nicht nur im Sinne digitaler, sondern eben auch gesellschaftlicher Integration. Ein Volltreffer war zudem der preisgekrönte „Vielfalt“-Werbespot von Edeka, der einen fast leer geräumten Supermarkt mit Regalen nur aus deutscher Produktion zeigte. Und auch Nachhaltigkeit ist wieder ein Thema (siehe die Initiativen der großen Lebensmittelhändler Edeka, Rewe, Aldi) und als Purpose attraktiver denn als CSR-Report.
Daimler, Siemens oder Springer – sie alle haben Purpose-Initiativen gestartet, in denen sie darüber nachdenken, was ihr eigentliches „Warum“ ist, der übergreifende Sinn ihrer Unternehmung, etwas, das größer ist als sie selbst, das sie zukünftigen Generationen hinterlassen können. Dieser „Vorsprung durch Purpose“ eröffnet, nachdem die datenbesessene Digitalisierung ja oft ein Hinterherhecheln bedeutete und mitunter auch zur Markennivellierung führte, wieder Raum zur Differenzierung: Man darf wieder anders sein, Persönlichkeit haben, „Kante zeigen“.
Alfred Kärcher, der Gründer des schwäbischen Reinigungsgeräteherstellers, hat das einmal so auf den Punkt gebracht: „Unsere Kunden bleiben uns treu nicht aufgrund dessen, was wir tun, sondern wer wir sind“. Ein Unternehmen, das seinen Purpose kennt, das sich selber verwirklicht, ist echt und authentisch, nach innen wie nach außen. In einer Zeit des rasanten Wandels ist der Sinn eines Unternehmens eine der wenigen Konstanten und der einzige nachhaltige Wettbewerbsvorteil, der sich nicht so leicht nachahmen lässt. Egal, welcher Mitarbeiter von Bord geht oder wie sehr Wettbewerber Geschäftsmodell, Angebot oder Kampagnen auch kopieren, der Purpose, wenn er denn echt ist, bleibt unverwechselbar.
Der Trend hin zum Purpose ist auch eine Folge der Ernüchterung mit den einst so hochtrabenden digitalen Versprechungen. Seien wir ehrlich, wir sind ziemlich enttäuscht. Die Entzauberung der Silicon-Valley-Tech-Giganten und des von ihnen propagierten Weltbildes hat sich nicht nur in diversen Skandalen (Cambridge Analytica, Uber, Theranos) niedergeschlagen, sondern zuletzt auch finanziell ausgewirkt, wie die einzigartige Wertezerstörung nach dem Absturz der Facebook-Aktie zeigte.
Das Hans und Marie Festival, das im Juni in Berlin stattfand und zu dem ich beitragen durfte, zweifelte denn auch daran, ob die Digitalisierung uns außer Effizienzgewinnen glücklicher gemacht hat. Marken als Glücksstifter: Das ist natürlich ein Evergreen schon aus den Hochzeiten der klassischen Werbung – nur, dass es jetzt, zu Zeiten radikaler Transparenz, eben wahr sein muss und dringlicher ist als je zuvor. Fake-Happiness will keiner mehr.
Nun sind Marken ihrem Wesen nach natürlich Übertreibungskünstler. Aber in einer Zeit, in der viele das Übertreiben übertreiben und Shitstorms zum Standardreflex einer dauerempörten Gesellschaft geworden sind, haben Marken nicht nur die Chance, sondern auch die gesellschaftliche Verantwortung, sich von diesen Exzessen abzugrenzen: Understatement, Zurückhaltung und Bescheidenheit sind das Gebot der Stunde. Wollen sie menschlich sein, müssen sie sich an dem schwierigen Spagat versuchen, Gefühle zu zeigen und gleichzeitig einen kühlen Kopf zu bewahren.
Gefragt: hohe Spielintelligenz
Ihren langwierigen Werten und Prinzipien verpflichtet müssen Marken ständig neue Welten, neue Bedeutungen schaffen. Das Spielen ist dafür die beste Quelle. Es unterscheidet sich vom Experimentieren: Während das Experiment eine Hypothese mit methodologisch strengen Regeln zielgerichtet testet, ist das Spiel eine offene Angelegenheit, bei der es darum geht, sich und den „game plan“ an immer wieder ändernde Gegebenheiten anzupassen (sprich, zu improvisieren), Empathie für Mitspieler (und Gegner) zu entwickeln, und intuitiv und mit Fantasie zu agieren und zu reagieren – alles Qualitäten, die in den extrem beschleunigten Märkten von heute von großem Vorteil sind. Anders als beim Experimentieren bedeutet Spielen immer auch Spaß und eine hohe Gestaltungsfreiheit: Das ist eine Einsicht, die sich so manches Unternehmen zu Herzen nehmen sollte, das seinen Inkubatoren, Spin-Ins und U-Boot-Projekten zu enge Daumenschrauben, d.h. zu viele Key-Performance-Indicators, anlegt und somit die Spielfreude und Kreativität im Keim erstickt.
Google Maps ist angeblich aus einem spielerischen Impuls heraus entstanden. Aber nicht nur für die Innovationsstärke eines Unternehmens ist Spiel ein probates Mittel. Auch für Mitarbeiter, von denen in Deutschland laut Gallup 70 Prozent innerlich gekündigt haben (und von denen 86 Prozent über arbeitsplatzbedingten Stress klagen) bedeuten spielerische Elemente eine willkommene Abwechslung von Routinearbeiten, die zu mangelndem Engagement im Job beitragen. Dies führt dann wiederum im Kundenverhältnis zu größerer Bereitschaft, etwas auszuprobieren und neue Features, Experiences oder Geschäftsmodelle einzuführen.
Marken müssen kämpfen
Im Grunde geht es bei den neuen 4 P um ein fünftes: People. Beziehungen sind immer noch die exponentiellste aller Technologien. Marken, die wie wir Menschen fühlen, handeln und auftreten, werden auch in Zukunft und sogar mehr denn je für andere Menschen attraktiv sein. Für die Ära von KI und Automatisierung sind Marken, die sich wandeln, um sich treu zu bleiben, gut aufgestellt. Plattform-Modelle steigern Wert und Reichweite durch Netzwerk-Effekte. Purpose und Haltung ziehen an, Leidenschaft steckt an und Spielen garantiert Innovation und anhaltende Motivation.
Aber klar ist auch: Marken müssen kämpfen – nicht nur um ihr eigenes Überleben, sondern auch das ihrer Märkte. Ihre größte Kampagne sollte eine Herzenssache sein und ein leidenschaftliches Bekenntnis: zum Westen, mit seiner liberal-demokratischen Grundordnung und sozialen Marktwirtschaft und zugleich zu einer kosmopolitischen Gesellschaft, die für möglichst viele eine Plattform, eine Heimat sein kann. Eine Führungskraft eines traditionsreichen deutschen Konzerns vertraute mir neulich folgendes an: „Ein Unternehmen wie uns muss es einfach geben. Ansonsten gibt es auch irgendwann unsere Form der Gesellschaft nicht mehr. Deswegen stehe ich jeden Morgen auf und gehe zur Arbeit“.
Ohne Plattform-Denken wird es für Marken nicht mehr gehen, aber vor allem Purpose, Passion und Play müssen in Zukunft mit in der Arena sein. Denn es steht vieles auf dem Spiel.
Dieser Artikel erschien auf t3n.