Die größte Transformation ist gar nicht digital
Warum Unternehmen in der Zeit von Supercomputern, Künstlicher Intelligenz und Automatisierung ausgerechnet von der Romantik lernen können.
von Tim Leberecht
Die digitale Transformation ist Deutschlands größte kollektive Herausforderung. Allerdings wurden die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die der Fortschritt digitaler Technologien auslöste, lange unterschätzt.
Viele Treiber dieses Fortschritts sitzen im kalifornischen Silicon Valley, wo weder geschichtliche Last noch allzu kritisches Denken einer schlagfertigen und experimentellen unternehmerischen Kultur im Wege stehen. Viele andere Firmen fühlen sich weitgehend abgeschlagen. Zwei von fünf aus der Liste der 500 umsatzstärksten Unternehmen der Welt, so eine Schätzung, werden die nächsten zehn Jahre nicht überleben. Und auch in Deutschland sind Mittelständler und Industriekonzerne verwundbar. Unter den zehn höchstbewerteten Unternehmen der Welt fanden sich sechs digitale Plattformen und nur noch vier Industriefirmen.
Die automatisierte Wirtschaft
Der radikalste Wandel steht uns jedoch noch bevor – und bietet zugleich die größte Chance: das sogenannte Computational Age, das Zeitalter der künstlichen Intelligenz (KI). Studien prognostizieren, dass in den nächsten 20 Jahren bis zu 50 Prozent aller menschlichen Arbeitsplätze durch Computer und Roboter ersetzt werden. Bis 2025 werden schätzungsweise 1,5 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland verschwinden. Einer Umfrage der Personalberatung Korn Ferry zufolge betrachten schon jetzt zwei Drittel der CEOs weltweit nicht mehr ihre Mitarbeiter als ihr wertvollstes Gut, sondern Technologie. Der Mensch rangiert nur noch an fünfter Stelle. Dezentralisierte Systeme wie Blockchain, die etwa die Finanzindustrie aufmischen und im Extremfall sogenannte DAOs (dezentrale autonome Organisationen) ermöglichen, werden diesem Trend Vorschub leisten.
Die Algorithmisierung und die Automatisierung der Wirtschaft lassen sich nicht aufhalten. Es geht nun darum, das Konzept von Arbeit neu zu gestalten. Wenn alle Tätigkeiten, die berechenbar sind und effizienter gemacht werden können, unausweichlich von Maschinen übernommen werden, bleibt uns Menschen nur noch, was „schön“ ist – Aufgaben, die Vorstellungskraft, Einfallsreichtum, Empathie, Intuition, Fürsorge und Moral erfordern. Man könnte auch sagen: Menschliche Arbeit wird künstlerischer werden.
Für Deutschland als führende Industrienation bedeutete Digitalisierung bislang vor allem, industrielle Prozesse zu digitalisieren. Die große Chance liegt darin, die industrielle Kompetenz mit einem neuen Humanismus zu kombinieren. Anders als das Silicon Valley hat Deutschland eine ausgeprägte humanistische Tradition, die nicht nur den Erfindergeist weckt, sondern uns eben auch in unserem Verhältnis zum anderen sensibilisiert – zu anderen Kulturen, Überzeugungen, Intelligenzformen. Der Mensch ist und bleibt Mensch, weil er (mit-)leidens- und liebensfähig ist.
Wenn Millionen Menschen wegautomatisiert werden und der Arbeitsplatz als Ort der sozialen Integration an Bedeutung verliert, dann werden diese Qualitäten überlebenswichtig für eine Gesellschaft, die weiterhin menschlich bleiben will. Wir werden nämlich bald noch viel stärker auch die Erwerbslosen berücksichtigen müssen, die zu den Verlierern der Technologiesprünge zählen.
Aber nicht nur das. Die nächste Phase der Digitalisierung wird die vollkommene Digitalisierung des Menschen selbst einläuten. Schon jetzt sind Smartphones unser verlängerter Arm, und die virtuellen Alter Egos in Games, Augmented oder Virtual-Reality-Technologien sind immersive Ausdehnungen unseres Ichs. Wenn Tech-Firmen demnächst unsere Körper codieren und unsere Emotionen programmieren, dann können wir uns nur noch auf zutiefst subjektive Gefühlswelten verlassen. Die nächste, die entscheidende Phase der Digitalisierung wird an Herz und Nieren gehen und nur dann friedlich enden, wenn wir auf Freiräumen für grundlegende, nicht quantifizierbare menschliche Sehnsüchte beharren: Intimität, Empathie und Schönheit.
Andere Welten zugänglich machen und erkunden; das Individuum stärken inmitten der digitalen Kräfte; emotionale und spirituelle, nicht nur rationale und analytische Wahrheiten zulassen – all das sind Qualitäten, die Unternehmen im Computational Age aus der romantischen Bewegung des 18. und 19. Jahrhunderts entlehnen können. Vor dem Hintergrund von KI und Automatisierung wird die Frage „Was macht uns menschlich?“ gleichzeitig zur Frage „Was macht uns als Marke, als Unternehmen eigentlich noch speziell?“. Die Antwort auf beide lautet: Romantik. Wenn Technologie alles erklärt, alles entzaubert, müssen Marken neue Mehrdeutigkeiten, neue Geheimnisse schaffen. Wenn alles hypereffizient ist, müssen Unternehmer Ineffizienzen zelebrieren, Überflüssiges tun und den empfindlichen Einschnitten in unsere menschliche Autonomie eine neue Empfindsamkeit entgegensetzen.
Mit anderen Worten: Kultur. Kultur ist, was man trotzdem macht. Dies kann eine Art Geheimbund („Ministry of Unusual Business“) sein wie beim E-Commerce-Anbieter Etsy. Weitere Beispiele sind Management-Meetings mit Rollenspielen, Perücken und Kostümen (und immer auch externen Überraschungsgästen) wie beim Nahrungsmittelkonzern Danone; Virtual-Reality-basierte „Externships“, in denen Angestellte für einen Tag firmenübergreifend zusammenarbeiten; der „Culture Club“, den die Otto Group unterhält; oder die strikte Einhaltung der Viertagewoche bei der Berliner Designagentur IXDS (mit beachtlichem wirtschaftlichen Erfolg). Wichtig ist natürlich auch, was der Chef macht: Viola Klein, Gründerin des IT-Unternehmens Saxonia Systems, war nicht nur eine der ersten Unternehmerinnen, die mit ihrer „Welcome App Germany“ in der Flüchtlingskrise klar Stellung bezog, sondern sie beharrt auch darauf, dass ihr jeder Jobbewerber als Teil des Vorstellungsgesprächs kurz „zufällig“ auf den Fluren des Unternehmens begegnet.
Wenn die deutsche Wirtschaft es schafft, Ingenieurskunst mit Dichtern und Denkern zu verbinden, Industrie 4.0 mit Romantik, dann können sie und die Politik mehr als nur der Digitalisierung hinterherhecheln und den Aposteln des entfesselten Wachstums im Silicon Valley folgen. Dann kann die deutsche Wirtschaft die Idee einer freien und humanen Gesellschaft selbst weiterentwickeln, mitten im Auge des digitalen Hurrikans. Das wäre eine in der Tat historische Leistung – und die größte und nachhaltigste Transformation von allen.
Dieser Essay erschien in Fruehling 2017 Ausgabe von EINMALIG, dem Magazin der Bundesdruckerei.