Die Macht des Zynismus in hundert Zeilen Hass
"Der zynische Impuls fühlt sich im Business oft ganz und gar zu Hause."
von Alexandra Hildebrandt
„Man wirft mir vor, ich sei zu derb, ekelhaft, zu unheimlich, zu zynisch und was es dergleichen noch an soliden, gediegenen Eigenschaften gibt – und man übersieht dabei, dass ich doch kein anderes Bestreben habe, als die Welt zu schildern, wie sie halt leider ist.” (Ödön von Horváth)
Gegen den Hass
Der Blick liebender Menschen auf die Welt hat Ähnlichkeit mit dem Blick jener, die hassen: Er ist distanzlos und von Affekten bestimmt. Er sieht die Realität verzerrt. Die Publizistin Carolin Emcke beginnt ihr Buch „Gegen den Hass” mit diesem Grundgedanken und fragt nach gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen, die Hass befördern. Und sie zeigt, wie er sich schleichend in der Medienwelt und Alltagskommunikation ausbreitet und uns allmählich die Kehle zuschnürt.
Trotz Gewalt und Hass dominiert für sie die „unbeirrbare Kraft derer, die für diesen Glauben an ein offenes, freies, gerechtes Miteinander” aufstehen und einstehen. Wer Hass und Zynismus als Selbstschutz vor sich herträgt, untergräbt die „freie, offene Gesellschaft ebenso wie diejenigen, die im Autoritären sich verpanzern wollen”. Ohne diesen guten Grund unter den Füßen, den ein Zyniker nicht betreten würde, wäre es unerträglich, sich auf das weite Feld des Hasses zu begeben.
„Hundert Zeilen Hass” müssen in Beziehung gesetzt werden, brauchen ein Gegengewicht, weil sie sonst erdrücken würden in unserer von Zynismus und Ichbezogenheit geprägten Zeit. Das Buch ist eine Neuauflage der Kolumnen des Schriftstellers Maxim Biller, die zwischen 1987 und 1999 im Lifestyle-Magazin TEMPO erschienen sind. Biller, Jahrgang 1960, ist Jude. Bis er zehn Jahre alt war, lebte er mit seinen Eltern und seiner Schwester in Prag. Dann zog die Familie nach Hamburg.
Biller verhöhnt deutsche Herdenmentalität, den Vegetarianismus, Tierfreunde, den deutschen Literaturbetrieb, Kleinfamilien, „Poptrottel”, Intellektuelle, die zur WM über Fußball reden („sie haben doch sonst niemanden, der ihnen zuhört”), Aufsteiger, Angeber, Schwindler und die 80er-Jahre als „grausliches, neostrukturalistisch verseuchte Als-ob-Jahrzehnt”. Ins Visier nimmt er vor allem aber Menschen.
Sein Repertoire der Abneigung reicht von A bis Z:
Wolf Biermann („dieser arme Choleriker und Unsympath”)
Christoph Daum („dieser seltsam schnurrbärtige Fußballtrainer mit dem irren Blick eines schlaftrunkenen Generals”)
Marion Gräfin Dönhoff (sie soll „ihren ehrwürdigen Hintern aus unserer Presselandschaft wegbewegen”)
Eugen Drewermann („der Idealtypus eines fanatischen Pfaffen”)
Joschka Fischer („der unprosaische Ja-Sager”)
Thomas Gottschalk (der „fahnenmastgroße” Monologisierer)
Gregor Gysi (die „größte kommunistische Sexbome seit Ernst Toller”)
Oskar Lafontaine (der „Lifestyle-Parvenü”)
Henry Maske (mit seinem „ausdruckslosen, orwellesken NVA-Strebergesicht”)
Lea Rosh (die „pseudolinke Bildungsbürger-Ikone und Betroffenheitspredigerin”)
Volker Rühe (der “Westentasche-Rechtsradikale”)
Harald Schmidt („ein Stück Scheiße, der Schwule nicht leiden kann”)
Frank Schirrmacher (der „Vertreter eines längt abgestandenen, akademisierten Literaturbegriffs”)
Ulrich Tukur („Ein Ewiggestriger? Ein grüner Biedermeier? Ein publicitygeiler Provinzgigolo?”)
Roger Willemsen (der „Intellektuellendarsteller”, „Vortäuscher”, „Blender” und „Trickser”)
Seinen Hass schießt Biller treffsicher in alle Richtungen zugleich, so dass man oft nicht weiß, wohin beim Lesen. Und so treffen seine Wort-Schüsse auch den Leser in voller Wucht. Zeilen wie die von 1988 sind noch immer wichtig und hochaktuell: Da wir in einer Zeit der Bilder leben, die millionenfach produziert werden, „schauen wir uns nur noch zu”. Die Bilderflut sei eine böse Entwicklung, weil sie dumm ist: „Seit die Bilder regieren, ist der Analphabetismus nicht mehr aufzuhalten.”
1990 beschrieb er eine Übergangsphase, die der Autor William Bridges das „no-man’s-land” nennt: Das Alte ist nicht mehr, das Neue ist noch nicht da. Bei Biller heißt es: „Das Alte ist zerstört, aber das Neue hat sich noch nicht etabliert und gefestigt.”
Dies deckt sich mit der Aussage des Managementvordenkers Fredmund Malik, dass vieles in der Alten Welt nicht mehr funktioniert, weil sie ihrem Ende zugeht, und in der Neuen Welt vieles noch nicht geht, weil es entweder noch nicht richtig da oder noch nicht reif genug ist. Das erzeugt Ängste und Verunsicherung in Krisenzeiten.
Aber Biller trifft auch (auf) sich selbst: Einmal im Jahr, im Herbst, vergisst er seinen Hass und wird traurig. Der Herbst ist für ihn „böse”, denn wenn er kommt, geht das Leben. Vielleicht erinnert er ihn an seinen Hass. Der Herbst hält ihm einen Spiegel vor.
Unter Zynikern
Auch Zynismus ist „böse” wie der Herbst: Er entblößt, so dass sich das unglückliche Bewusstsein selbst ins Auge sehen kann. Dem Zyniker kann nichts mehr unter die Haut gehen, weil er keine hat. „Der Romantiker bekommt zumindest eine Gänsehaut”, schreibt der Business-Experte Tim Leberecht in seinem Buch „Business-Romantiker”, in dem er als größte Bedrohung den Zynismus als Déformation professionelle der Geschäftswelt beschreibt:
„Ob man Firmen kauft, indem man massiv Schulden aufnimmt, die dann das übernommene Unternehmen tragen muss; ob man mit erwarteten Verlusten auf den Aktienmärkten Gewinn macht; ob man Immobiliendarlehen an Leute vergibt, die sie sich nicht leisten können; ob man ein Corporate-Social-Responsibility-Programm auflegt, um ethisch fragwürdiges Verhalten zu bemänteln; oder ob man einen Angestellten glauben lässt, dass er für eine Beförderung vorgesehen sei, nur um seine Motivation und sein Engagement auszunutzen – der zynische Impuls fühlt sich im Business oft ganz und gar zu Hause.”
Immer wieder spielt hier auch Oscar Wilde hinein, der von sich behauptete, dass er nicht zynisch sei, sondern nur Erfahrung habe (was „so ziemlich dasselbe” sein soll). Zynismus sei die Kunst, „die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und nicht, wie sie sein sollten”. Und: „Ein Zyniker ist ein Mensch, der von allem den Preis kennt und von nichts den Wert.”
Der Zyniker verletzt andere mit Worten, kritisiert ohne Tabu und Schamgefühl, um Klarheit zu gewinnen und nimmt unversöhnliche Anti-Positionen ein. In diesen Zusammenhang gehört auch der Satz des Investors Gordon Gekko aus dem Film Wall Street: „Wenn du einen Freund brauchst, kauf dir einen Hund.”
Im 4. Jahrhundert v. Chr. Wurde der griechische Philosoph Diogenes wegen seiner bissigen Gesellschaftskritik „kyon” (der Hund) genannt. Von seinem Spitznamen leitet sich der Begriff Kyniker her, der eine philosophische Bewegung bezeichnet, die von Diogenes ihren Ausgang nahm.
Im Gedicht „Prinzessin Sabbath” nennt sich der Zyniker Heinrich Heine „Hund mit hündischen Gedanken”, in seinem Roman „Der Prozess” lässt Franz Kafka Josef K. „wie einen Hund” sterben, in Maxim Billers Novelle „Im Kopf von Bruno Schulz” wird Bruno Schulz als ein hundeartiges Wesen beschrieben.
Auch seine Kolumnen haben etwas Heinesches-Hündisches-Bissiges. In der antiken Rhetorik gibt es dafür den Fachbegriff „Parrhesia”, auf den der deutsch-amerikanische Romanist Hans Ulrich Gumbrecht in seinem Nachwort verweist: „das anscheinend aufrichtige, unkontrollierte und verletzende Reden”, das zu den Zynikern gehörte.
Doch was weiß der Leser, wenn er all „das” weiß und selbst „angebissen” ist? Vielleicht sehnt er sich einfach nur nach hundert Zeilen Hass nach Büchern wie „Gegen den Hass” von Carolin Emcke, das Balsam ist für die Wunde Gegenwart und sie nicht noch weiter aufreißt, sondern heilt.
Literatur:
Maxim Biller: Hundert Zeilen Hass. Hoffmann und Campe, Hamburg 2017,
Carolin Emcke: Gegen den Hass. S. Fischer Verlag. Frankfurt a. M. 2017.
Tim Leberecht: Business-Romantiker. Von der Sehnsucht nach einem anderen Wirtschaftsleben. Droemer Verlag München 2015.
Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt am Main 1983.