Ein Plädoyer für Leidenschaft im Wirtschaftsleben
Romanze mit dem Job
Sehnsucht, Abenteuerlust, Verspieltheit: Eigenschaften, die eine funktionierende Liebesbeziehung prägen, sollten auch in unserem Arbeitsalltag eine tragende Rolle spielen, findet der Autor Tim Leberecht.
Wenn man in einem schlecht bezahlten Dienstleistungsjob arbeitet, ist materieller Zugewinn noch immer wichtiger – wenn nicht sogar am wichtigsten – für das persönliche Wohlergehen. Für eine wachsende Gruppe von Menschen, auch in Deutschland, hat es in ihrer Arbeit nie viel Romantik gegeben, und die zunehmende Ungleichheit könnte jede Hoffnung, dass das in der Zukunft anders kommen könne, zunichtemachen.
Mit Business-Romantik ist jedoch nicht unbedingt gemeint, dass man „tut, was man liebt“. Dieses von Steve Jobs inspirierte Mantra ist vielmehr heutzutage unter Kleinunternehmern, Kunsthandwerkern und Freiberuflern derart weit verbreitet, dass es schon erste Gegenreaktionen hervorruft. Die Autorin Miya Tokumitsu etwa wendet ein, dass ein solches Motto elitäre Annahmen verbreite, die den ganz eigenen Wert von Arbeit und Pflichterfüllung herabwürdigten.
Mit Business-Romantik ist auch nicht gemeint, dass man immer „liebt, was man tut“. Gemeint ist schlicht die Fähigkeit, in dem, was man tut, Augenblicke der Liebe zu schaffen und zu finden – selbst in dem, was Tokumitsu als „nicht liebenswerte“ Arbeit bezeichnet: Voraussetzungen für echte menschliche Kontakte und eine Ahnung von Großartigkeit, die das Alltägliche überschreitet. Skeptiker mögen das als eskapistische Anleitung zur Selbsttäuschung bezeichnen. Ich nenne es den Mut, gegen den „Tod durch Realismus“ zu kämpfen – den Mut, Hingabe und Verletzlichkeit an die Stelle von Zynismus zu setzen.
Gefangen im Hamsterrad
Üblicherweise definieren wir Erfolg als eine Abfolge von erreichten Zielen, die auf einer geraden Linie hin zur höchsten Ebene einer Lebensleistung führt, die von den Kollegen, Freunden und der Familie sowie der gesamten Gesellschaft anerkannt und belohnt wird. Mit anderen Worten: eine Karriere. In der konventionellen Definition einer Karriere führt Erfolg zu mehr Erfolg. Zumindest hoffen wir das!
In der Minute, in der wir Erfolg haben, fühlen wir uns genötigt, mehr Erfolge zu erzielen – mit dem einzigen Ziel, noch viel erfolgreicher zu werden. Wir wissen, dass das unsinnig ist, und können doch nicht anders; wir sind im sprichwörtlichen „Hamsterrad“ gefangen, das wir ständig weiter und schneller drehen wollen.
Der amerikanische Schriftsteller George Saunders warnt uns vor den Ablenkungen, die diese enge Definition von Erfolg hervorruft: „Es gibt eine sehr reale Gefahr, dass ,Erfolg zu haben‘ Ihr ganzes Leben in Anspruch nehmen wird, während die großen Fragen unbeantwortet bleiben.“
Business-Romantiker planen ihre eigenen Schlussakkorde. Wir schaffen Rituale, um einige dieser Runden im Hamsterrad zu zelebrieren und ihnen einen höheren Sinn zu verleihen. Manchmal treten wir sogar aus dem Rad heraus, wenn es auch nur für einen Augenblick des Nachdenkens ist oder für eine Verjüngungsphase. Wenn wir gehen, dann tun wir es erfüllt. Vielleicht gehen wir, wie die Angestellten von Naked Wine, die bei ihrer Kündigungs-E-Mail gemeinsam auf den „Senden“-Button gedrückt haben, als ein Kollektiv, das sich auf die Suche nach einem tatsächlich erfüllenden Leben macht.
Als Business-Romantiker erkennen wir an, dass Erfolg ein notwendiger Teil unserer Karriere-Gleichung ist, aber wir blicken mit einer gesunden Dosis Ironie und Verspieltheit darauf. Anstatt uns selbst an quantitativen Erfolgsmaßstäben zu messen, haben wir andere, provokativere Bewertungsmethoden. Wir tragen eine Maske! Wir finden Vergnügen daran, die Rolle des Erfolgsmenschen auszuprobieren. Aber wir vergessen nie, dass unsere Seele noch unzählige andere Seiten hat: Verletzlichkeit, Melancholie, Leiden und ein großes Verständnis für Fremde und Fremdheit, für Verrücktes und Vorübergehendes, um nur einige wenige zu nennen.
Keine Toleranz
Zyniker mögen die romantische Disposition als einen bequemen Zufluchtsort verächtlich machen, als einen „sicheren Hafen für Faulenzer“, wie einer meiner skeptischeren Kollegen es mal genannt hat. Tatsächlich kennen Business-Romantiker jedoch keine Toleranz, wenn jemand sich gehen lässt. Romantik im Business erfordert Überzeugung, Sorgfalt und eine fast schon übertriebene Aufmerksamkeit für Details.
Hier geht es um Spitzenleistungen, die nicht um des Profits oder einer exzellenten Leistungsbeurteilung willen erbracht werden, sondern im Dienste eines transzendenten Erlebnisses, einer tief empfundenen Verpflichtung zu Qualität.
Sie werden sich in Ihrer Karriere gewiss an einer Unmenge verschiedener Maßstäbe für finanziellen oder Managementerfolg messen lassen müssen – aber geben Sie dabei nie Ihre Vision von romantischem Erfolg auf! Was erfüllt Sie? Welches sind Ihre romantischen Momente? Wie bewerten Sie sie? Das ist keine leichte Aufgabe: Führungskräfte in der Wirtschaft müssen darauf achten, auch solchen Werten Raum zu gewähren, die nicht direkt die Einnahmekanäle berühren. Dies bedeutet für Initiativen, die nicht mit einem festen Satz von Messgrößen definiert werden können, einen ständigen Kampf um Zeit und Ressourcen.
Matthew Stinchcomb von Etsy, einem Online-Shop für handgemachte Produkte, hat über diesen Konflikt in seiner eigenen Karriere gesprochen: „Ich versuche, einen Mittelweg zwischen Herz und Kopf zu finden, und ich hoffe, dass ich das immer schaffe. Aber ich werde nie in der Lage sein, das zu quantifizieren.“
Wenn man einer romantischeren Vision des Wirtschaftens folgt, so ist die Konsequenz, dass die Erfolgsmaßstäbe „esoterischer“ werden, wie es Stinchcomb beschreibt: „In bestimmten Bereichen der Wirtschaft kann man sagen: ,Ich habe diese große Sache aufgebaut, und das hat zu X geführt.‘ In meiner Rolle sage ich: ,Ich habe meine Zeit damit verbracht, Mitarbeitern die Mittel zu geben und in Ihnen den Wunsch zu wecken, den Werten von Etsy zu folgen.‘ Bin ich erfolgreich? Es ist für mich ein bisschen schwierig, das zu sagen. Ich messe meinen eigenen Erfolg durch Selbsteinschätzung: ,Habe ich gesagt, dass ich das machen würde? Und habe ich es dann gemacht?‘“
Sein eigenes Leitbild formulieren
Was Stinchcomb hier beschreibt, ist sein eigenes Leitbild – die persönliche Raison d’être für sein Im-Business-Sein. In unseren Leistungsbeurteilungen werden wir oft an dem Leitbild unseres Unternehmens gemessen, aber wir fragen nur selten danach, ob die Firma unserem eigenen Leitbild gerecht wird. Unternehmen betreiben großen Aufwand, um ein schlüssiges Leitbild zu formulieren, während wir als Einzelne nur selten unsere eigenen Leitbilder entwerfen – vielleicht aus Angst, dass wir ihre Wahrheit aufs Spiel setzen, wenn wir sie explizit machen.
Als Business-Romantiker möchte ich Sie jedoch ermuntern, Ihr eigenes Leitbild zu formulieren. Vielleicht ist es nur ein Spruch wie aus dem Glückskeks, eine Strophe aus einem Gedicht oder irgendetwas, was irgendjemand irgendwann zu Ihnen gesagt hat.
In jedem Fall ist es ein nützliches Mittel, um Ihren Platz in der Welt zu behaupten und ein einzigartiges Talent oder eine Perspektive zu beschreiben, die nur Sie beitragen können. Ihr persönliches Leitbild – hochfliegend genug, dass es nicht mit einem schlichten Drei-Jahres-Karriereplan verwechselt werden kann – beschreibt die Sache, für die Sie kämpfen wollen. Hier ist meines:
“Vielleicht” ist vielleicht das wichtigste Wort
Mit großer Verletzlichkeit, ansteckender Begeisterungsfähigkeit und einem religiösen Glauben an die Bedeutung von Details schaffe und schütze ich Freiräume für Ideen und Taten, die zeigen, dass wir – vielleicht – verbunden sind und dass ein anderes Leben stets möglich ist.
Dieses Leitbild dient mir als eine Linse, durch die ich all meine beruflichen (und persönlichen) Entscheidungen betrachte. Es ist ein Kompass, kein Dashboard. Es erfasst, wer ich sein will, warum ich hier bin, was ich tun und wie ich es tun will. Jedes einzelne Wort ist das Ergebnis gründlicher Überlegung, und das – vielleicht – wichtigste von ihnen ist „vielleicht“. Als Romantiker können wir hundertprozentig überzeugt sein, aber nie ganz sicher.
Als Matthew Stinchcomb und ich in unserem Gespräch auf genau dieses Thema zu sprechen kommen, meint er: „Wenn ich meine eigenen Einschätzungen zu Erfolgsmaßstäben mache, ist die größte Konsequenz meine eigene Unsicherheit und Angst.“ Als Romantiker sollten wir versuchen, diese Momente der Angst nicht zu unterdrücken. Unsere „Siege“ mögen nicht aussehen wie andere Siege, und unsere „Erfolge“ mögen für unsere Kollegen und Teamkameraden unsichtbar sein. Und unausweichlich wird es Momente geben, in denen wir verlieren. Wir werden Pitches, Kunden, Marktanteile und sogar unser Gesicht verlieren. Niemand kann ewig an der Spitze bleiben. Darum erfüllen Erfolge, Auszeichnungen oder auch nur die bloße Wahrnehmung, dass etwas gelingt, uns Romantiker mit nervöser Sorge.
Der Moment, in dem wir den größten Applaus erhalten, ist der Moment unserer größten Traurigkeit. Wir sind zu solch extremen Empfindungen veranlagt; wir sehen die Dunkelheit, wo Licht ist, und sehen das Licht, wo es stockdunkel ist.
In solchen Momenten wenden wir uns unserer Vorstellungskraft zu. Aus einem Verlust machen wir so einen geschickten Dolchstoß, den wir gegen den Sinn führen. Wir messen uns nicht an Momenten der Niederlage, sondern an reflektierenden Fragen wie diesen: Haben wir unseren Job ehrenvoll erledigt? Haben wir bei anderen Menschen eine Saite berührt, die an jedem Tag nachklingt? Sind wir nicht nur mit unseren Bedürfnissen, sondern auch mit unseren Wünschen in Berührung gekommen? Haben wir Charakter bewiesen? Waren wir unserer ganzen Identität von Anfang bis Ende treu? Wenn unsere – Ihre – Antwort „Ja“ lautet, haben wir überhaupt nichts verloren.
Das nichtquantifizierte Ich
Wenn man all das bedenkt, gibt es dann überhaupt irgendeinen Weg, Romantik in expliziten Kriterien zu messen?
Nein: Romantik durch Messgrößen zu definieren würde einen Wälzer von Abertausenden Seiten erfordern, auf denen jede Ausdrucksform skizziert und jede individuelle Erfahrung reguliert und bewertet wird. Und doch wären wir bei der Schlussbilanz, wenn alle Ressourcen ausgegeben wurden, unsicher, wie der Gewinn aussehen würde. War es das wert? Romantik zu messen ist so, wie den Wert unseres eigenen Lebens zu messen. Unsere letzten Stunden vor dem Tod gehören unserem nichtquantifizierten Ich. Wir fragen nicht nach einer Bilanzgleichung, einem Tabellenstand oder dem ultimativen Ranking, um zu bewerten, was unser Leben wert war; wir können nur hoffen, dass es wert war, gelebt zu werden. Wenn wir unsere besten Zeiten Revue passieren lassen, werden wir alle romantisch, werden wir alle zu Romantikern.
Dieser Auszug aus dem Buch “Business-Romantiker” von Tim Leberecht erschien ursprünglich in der WirtschaftsWoche.