Gesucht: “Romantische Beziehung” zum Arbeitsplatz
Laut Werteindex 2016 ist Business-Romantik ein neuer Wert in Deutschland.
Die Deutschen werden körperlicher und engagierter
Gesundheit, Freiheit und Erfolg stehen für die Deutschen an der Spitze der Werte-Skala. Die Familie verliert an Strahlkraft. Sie gilt als wertvoll, ist aber nur schwierig umzusetzen.
Der Mensch ist ein Herdentier. Am liebsten bewegt er sich in Gesellschaft, eingehüllt in die Fürsorge seiner Mitmenschen in der Sicherheit einer Gruppe. Doch das alte Sprichwort “Blut ist dicker als Wasser” zählt dabei offensichtlich nicht mehr. Die Familie als Wert an sich ist auf dem absteigenden Ast.
Stattdessen ist der allgemeinere Begriff “Gemeinschaft” auf dem Vormarsch. Das jedenfalls ergab der neue Werte-Index 2016, den die Trendforschungsagentur Trendbüro und das Marktforschungsunternehmen TNS Infratest jetzt veröffentlicht haben.
In einer großen Social-Media-Analyse erheben die beiden Unternehmen seit 2009 alle zwei Jahre, über welche Themen sich die Deutschen im Internet austauschen – und mit welcher Stoßrichtung. 5,7 Millionen Beiträge auf Facebook und Twitter, in Blogs und Foren und den Kommentarspalten von Online-Medien haben sie dafür ausgewertet.
Menschen vertrauen am liebsten auf sich selbst
Wichtiges Ergebnis: Die klassischen Institutionen verlieren weiter an Glaubwürdigkeit. Ihnen wird immer seltener zugetraut, Antworten auf die drängenden Probleme der Zeit zu liefern. Stattdessen verlassen die Menschen sich mehr auf sich selbst – und übernehmen auch Verantwortung.
“Wir haben uns emanzipiert. Menschen vertrauen nicht mehr allein anonymen Institutionen, sondern packen selbst an”, sagt TNS-Infratest-Direktor Jens Krüger. Ein Beispiel dafür sei etwa die Welle der Hilfsbereitschaft in der Flüchtlingskrise.
An der Spitze der Skala halten sich konstant drei Werte, die auch schon bei der letzten Erhebung 2014 die Topplätze belegten: Gesundheit, Freiheit und Erfolg. Über kaum ein Thema tauschen sich die Deutschen online so intensiv aus wie über ihr körperliches Wohlbefinden.
Gesundheit wird dabei aber nicht als die Abwesenheit von Krankheit definiert, sondern eher im Sinne einer Selbstoptimierung, um Leistungsfähigkeit und Lebensqualität zu verbessern. “Die Arbeitswelt ist extrem anstrengend geworden. Die Menschen achten deshalb sehr genau darauf, was ihr Körper macht”, sagt Trendforscher Peter Wippermann. Dazu passt auch, dass der Wert der Natur über die Jahre stetig höher bewertet wird – als Sehnsuchtsfeld und Kraftquelle.
Die Freiheit ist verwundbar
Auch der Wert Freiheit wird von den Menschen weniger globalpolitisch definiert als eher im Sinne von Selbstbestimmung und Unabhängigkeit von Institutionen. “Selbstbestimmung ist hierzulande die selbstverständliche Basis eines gelungenen Lebens”, halten die Forscher fest. Phänomene der global vernetzten Welt wie etwa der islamistische Terror zeigten aber, wie verwundbar diese Freiheit sei.
Eng verwandt mit einem freien, selbstbestimmten Leben ist der Erfolg. Damit seien inzwischen immer weniger klassische Erfolgsattribute gemeint wie Statussymbole oder der Aufstieg in einer Hierarchie, so Wippermann: “Es geht eher darum, den Status zu halten und den immateriellen Wohlstand zu mehren. Lebensfreude ist mehr wert als eine Rolex.”
Das habe natürlich auch große Auswirkungen auf die Unternehmenspolitik. Im Umgang mit der viel umworbenen Generation Y gehe es für die Entscheider um nichts weniger als eine komplette Neudefinition der unternehmerischen Ziele, schreiben die Forscher. “Der Unternehmenserfolg ist nicht mehr gleichwertig mit der Bilanzsumme. Es geht um den Mehrwert an Lebensqualität für alle.”
Gesucht: “Romantische Beziehung” zum Arbeitsplatz
Der Marketing- und Managementexperte Tim Leberecht, den die Forscher für den Werte-Index 2016 befragten, bezeichnet das Unternehmen der Zukunft gar als “Sinnfabrik”: Gefragt sei eine “romantische Haltung zum Arbeitsplatz”.
Das Marketing verstehe es zwar, Konsumgüter so zu verpacken, dass sie die Sehnsüchte der Käufer ansprächen. “Von unseren Arbeitsplätzen haben wir Sehnsucht und jegliche andere Form von starken Gefühlen aber weitgehend verbannt – ein schwerwiegender Fehler.”
Überhaupt: Das Gefühl, sich und seine Welt selbst gestalten zu können und dabei den Rückhalt in der eigenen Gruppe zu haben, zieht sich wie ein roter Faden durch den Werte-Index. Statt in der digitalen Welt zu vereinsamen, zieht sich der Einzelne zunehmend in die eigene Welt des Bekannten und der Gleichgesinnten zurück – dabei unterstützen ihn Apps und das mobile Internet.
Rückzug in die Gruppe der Gleichgesinnten
Die Gesellschaft wandelt sich in gleichgesinnte Gemeinschaften – ein Wert, der inzwischen an fünfter Stelle rangiert. “Die Separierung in Gruppen hat deutlich zugenommen”, sagt Wippermann. “Man sucht sich die Gemeinschaft, die einem Sicherheit verspricht, und gibt ihr auch etwas zurück – wie eine Echokammer werden so eigene Meinungen und Vorurteile bestätigt.”
Auf den sechsten Platz abgesackt ist hingegen die Familie. “Die gefühlte Familie steht im Mittelpunkt und nicht die institutionalisierte”, sagt Wippermann. Das liege auch daran, dass Familie oft eher als Kraftakt denn als Glücksfall begriffen werde, schreiben die Forscher in ihrem Bericht.
Wer schließlich den Kraftakt schafft, trägt denn auch den Erfolg nach außen. So gibt es den scheinbar paradoxen Befund: Je schwieriger sie umzusetzen ist, desto wertvoller wird diese Lebensform. “Die Familie ist zum Statussymbol geworden. Das Familien-Selfie hat mehr Prestige als das Foto vom einsamen Palmenstrand”, sagt Wippermann.
Terror in Frankreich zeigt Wirkung
Der Wert Sicherheit stieg nach seinem historischen Tief von 2014 wieder um drei Plätze auf Position sieben – möglicherweise als Reaktion auf den Terroranschlag auf die französische Satirezeitschrift “Charlie Hebdo”.
Die Angst vor Terrorismus ist für Wippermann einer der Gründe, warum Freiheit und Sicherheit für die Deutschen so wichtig sind. Es gehe vielen darum, “in diesen Zeiten etwas zu suchen, was einem Ruhe gibt”.
Dieser Artikel erschien zunächst in der WELT am 17.11.2015.