Heisenbergs Becher
In seiner Kolumne für ada postuliert Tim Leberecht "das Ende von Human-Centered".
von Tim Leberecht
In der Süddeutschen Zeitung erschien kürzlich ein bemerkenswerter Artikel. Der Autor, Phillip Bovermann, riet uns dazu, doch endlich unsere Hoffnung aufzugeben. Die Klimakatastrophe habe bereits begonnen und sei nicht mehr aufzuhalten. Unsere letzte Chance: Melancholie.
Ähnlich argumentiert auch Paolo Antonelli, die Chefkuratorin des Museum of Modern Art in New York. Mit ihrer Ausstellung Broken Nature brachte sie jüngst Architektur- und Designprojekte der letzten 30 Jahre zusammen, um die zerrüttete Beziehung der Menschheit zu ihrem Planeten zu beleuchten.
Sie sagt: “Die Menschheit wird aussterben, soviel ist klar. Designer werden dies nicht aufhalten können. Aber wir haben die Fähigkeit, uns ein schönes, ein elegantes Ende zu schaffen. Ein würdevolles Ende bedeutet, dass wir ein Erbe hinterlassen, das Bedeutung und Gewicht hat“, ähnlich wie ein todeskranker Mensch, der weiß, dass er nur noch wenige Jahre zu leben hat.
Antonellis Provokation signalisiert einen radikalen Tabubruch: das Überwinden unseres anthropozentrischen Weltbildes, beziehungsweise, wie es in der Sprache des Design Thinking heißt: das Ende von “human-centered“.
Die Idee, den Menschen ins Zentrum der Wirtschaft zu stellen hat sich nämlich als ebenso überheblich wie destruktiv erwiesen. Human-centered kreist nur um sich selbst, aber was wir mehr denn je brauchen ist extreme Empathie. Eine Beziehung zum anderen, zum Fremden, die uns nicht auf uns selbst zurückwirft. Das Gegenteil von human-centered ist ein weiterreichendes, kosmisches Bewusstsein.
Nicht-westliche Kulturen weisen uns den Weg. Japans Shinto-Kultur geht zum Beispiel davon aus, dass allem ein Geist innewohnt: jeder Blume, jedem Staubpartikel, jeder Maschine – und insbesondere auch Künstlicher Intelligenz.
Lernen können wir auch von indigenen Gemeinschaften, beispielsweise nordamerikanischen Indianerstämmen. Die nämlich postulieren, dass der Mensch weder Gipfel noch Zentrum der Schöpfung ist. Sie schlagen vor, dass wir KI nicht als bloßes Werkzeug oder Sklaven ihrer Schöpfer betrachten, sondern ihr ein eigenes Wesen zusprechen.
Es gibt eine Technologie, die die Welt ähnlich sieht: das auf der Quantenphysik beruhende Quantum Computing. Quantum Computing zeigt uns, dass wir alle miteinander verbunden sind – als Teil von etwas, das größer ist als wir selbst. Es versichert uns, dass wir immer Eins und Null zugleich sind, und alles andere zwischendrin auch. Und es kann uns auf diese Art helfen, wieder den ganzen Zauber der Welt zu erschließen anstatt ihn auf binäre Daten zu reduzieren.
Das klingt spirituell und ist es auch. Werner Heisenberg, einer der Väter der Quantenphysik, hat das einmal so formuliert: „Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch; aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott.“
Dieser Text erschien zunächst im Magazin ada.