Lasst uns lernen, loszulassen
In einer Kolumne für das Magazin Ada fordert Tim eine neue Kultur des Verlierens.
von Tim Leberecht
Die Personalchefin eines Dax-Konzerns berichtete mir von ihrer größten Herausforderung: ihren Managern zu helfen, den durch den digitalen Wandel bedingten Kontrollverlust emotional zu bewältigen. Aber nicht nur alteingesessene Mitarbeiter, auch jüngere Generationen müssen in Zukunft vor allem eines lernen: loslassen und verlieren zu können. In unseren Unternehmen, seien wir ehrlich, ist Verlieren tabu. Scheitern ist letztlich nur dann ok, wenn es schnell wieder zum Gewinnen führt. Zudem ist Scheitern an das eigene Wirken gekoppelt. Verlustangst hingegen geht ans Eingemachte: sie ist getrieben von dem Gefühl der schleichenden Abnahme der eigenen Selbstwirksamkeit.
Genau das ist die Riesenherausforderung: Wenn Arbeit digital wird, werden wir in immer flacheren und dezentraleren Hierarchien Autorität abgeben und die Kontinuität und Stabilität fester, langfristiger Anstellungen aufgeben müssen. Diese Volatilität wird uns zunehmend zur emotionalen Agilität zwingen. Wir werden nicht nur immer öfter neues starten, sondern immer öfter auch altes zu Grabe tragen. Wie wir loslassen ohne die eigene Selbstwirksamkeit anzuzweifeln, wie wir verlieren ohne uns zu verlieren, lernen wir nicht auf der Business School, und auch nicht bei einem der vielen Anbieter von Digitalisierungsseminaren, sondern eher von den Ritualen der ikonischen Trennungskünstler unserer Zeit. Der Fußballspieler Andres Iniesta saß nach seinem Abschiedsspiel beim FC Barcelona einsam und barfuß eine Stunde lang im Anstoßkreis des Stadions. Die Performance-Künstlerin Marina Abramovic und ihr Partner Ulay beendeten ihre langjährige Beziehung, in dem beide von ihnen von entgegengelegenen Orten aus die Chinesische Mauer hochkletterten, um sich schließlich nach tagelangen Strapazen in der Mitte ihres Weges mit einem Kuss für immer zu trennen.
Diese Rituale mögen als Inspiration dienen für den Kulturwandel auch am Arbeitsplatz. Unser Verlust ist echt. Und so ist das Leiden, das wir empfinden, wenn wir das Arbeiten auf das reine Funktionieren, auf das stets vorwärtsgewandte Gewinnen und uns selbst auf permanente Selbstoptimierung reduzieren. Erst wenn uns die Digitalisierung dabei hilft, diese Reduktion zu überwinden, wenn sie uns ermöglicht loszulassen und auch zu verlieren, dann wird sie für uns wirklich eine Erfolgsgeschichte sein.
Dieser Text erschien in der Februar 2019-Ausgabe von Ada.