Meditation über Daten
Tim Leberecht im Dialog mit dem Soziologen und Bestseller ("Muster")-Autoren Armin Nassehi.
von Holger Thurm
Ist in einer zahlengetriebenen Welt noch Platz für das Unberechenbare? Wie passen Romantik und Algorithmen, Humanismus und die Vermessung des Ichs, künstliche Intelligenz und menschliche Interpretation zusammen? Zwei scharfsinnige Beobachter des digitalen Wertewandels diskutieren die Folgen des Datenkults für Wirtschaft und Gesellschaft: Tim Leberecht, Unternehmer und Gründer der Business Romantic Society, und Armin Nassehi, Soziologieprofessor an der LMU München, treffen sich zum ersten Mal und halten ein Plädoyer für die Entdeckung der Achtsamkeit im Umgang mit Zahlen.
Welches Verhältnis haben Sie beide zu Zahlen?
Tim Leberecht: Zwiespältig. Freundschaftlich, aber ich bin mir nicht so sicher, ob die Zahlen immer freundschaftlich mit mir verbunden sind. Noten in der Schule waren die erste Konfrontation mit Zahlen. Dann fand ich Zahlen toll, als ich Fußballfan wurde: die Zahl Vier zum Beispiel, die Rückennummer von Karl-Heinz Förster vom VfB Stuttgart. Jetzt als Unternehmer haben Zahlen für mich wieder mehr Schwere. Auf der einen Seite beschäftige ich mich sehr gerne mit Zahlen. Auf der anderen Seite finde ich sie auch absolut furchteinflößend, gerade in Form von Dashboards und Key Performance Indices. Ich schätze Zahlen als Spielform menschlichen Ausdrucks und Handelns. Aber wir sollten Zahlen auf gar keinen Fall mit der Wahrheit verwechseln. Das wäre ein Riesenfehler. Kurt Gödel, der berühmten Mathematiker, sagte einmal sinngemäß: Entweder ist die Mathematik zu groß für das menschliche Gehirn oder das menschliche Gehirn ist keine Maschine.
Armin Nassehi: Interessant, bei Zahlen auf das Mechanistische zu kommen. Zahlen sind Zeichen, die mehr Eindeutigkeit in die Welt bringen, als in der Welt enthalten ist. Ich habe auch ein eher gespaltenes Verhältnis zu Zahlen. Sie suggerieren eine Genauigkeit, die dann funktioniert, wenn wir uns nur noch im Zahlenraum bewegen. Aber was gezählt wird, das kann die Zahl selber nicht kontrollieren.
Tim Leberecht: Glauben Sie, dass wir zu zahlengläubig sind? Dass es so eine Art Reduktionismus gibt, den Zahlen eigentlich zu viel Bedeutung zuzumessen?
Armin Nassehi: Ja, natürlich. Wir gucken uns manchmal Dinge an, die sehr unscharf sind, und berechnen sie bis auf die 34. Stelle nach dem Komma. Das ist eine Form von „ungenauer Exaktheit“. Das ist immer schon eine große Kritik an den Naturwissenschaften gewesen, dass sie ihre Modelle mit der Wirklichkeit verwechseln.
Hat die Digitalisierung Unternehmer, Konzernlenker und Manager Denkmustern unterworfen, bei denen Zahlen, Daten und KPIs unternehmerisches Handeln dominieren? Oder war das schon immer so?
Armin Nassehi: Ob das immer schon so war, kann man nicht sagen. Im Ökonomischen wird ebenso Eindeutigkeit simuliert, etwa durch Bilanzen. Das Wirtschaftsleben wird ja selber gar nicht von diesen Zahlen bestimmt, sondern von den Motiven derer, die da handeln. Motive mit Auswirkungen. Eine kleine Meldung in der Presse sorgt dafür, dass ein Unternehmen vom Markt verschwindet. Eine kleine Information verschafft mir riesengroße Gewinne. Dass Wirtschaften nur auf Zahlen zurückzuführen, wäre naiv. Das hieße, es gäbe eindeutige Informationen. Man kann niemals mit Zahlen herauskriegen, welche Strategie die richtige an der Börse ist. Man kann aber aus den Zahlen herauslesen, ob es die richtige Strategie gewesen ist. Das ist ein großer Unterschied. Es gibt aber auch eine Form von Rationalität, die sich tatsächlich nicht in Zahlen ausdrücken lässt.
Tim Leberecht: Zum Beispiel? Das würde mich jetzt interessieren.
Armin Nassehi: Zum Beispiel eine Entscheidung. Entscheidungen sind eigentlich immer Formen, bei denen wir etwas tun müssen, weil wir nicht genau wissen, was wir zu tun haben. Wenn ich genau weiß, was ich tun muss, weil ich es berechnen kann, muss ich keine Entscheidung treffen. Weiß ich es nicht genau, muss ich abwägen. Da gibt es durchaus Rationalitäten, die sich nicht berechnen lassen.
Tim Leberecht: Die interpretativen Fähigkeiten des Managements werden wichtiger. Das ist das Schizophrene in digitalen Zeiten: Auf der einen Seite mehr Kontrolle, auch durch Zahlen, mehr Zugriff auf Mehrdeutigkeiten, die wir eindeutig machen können. Auf der anderen Seite aber diese Ohnmacht, die wir empfinden. Dass wir überwältigt sind und im Grunde auch die Digitalisierung als einen Prozess empfinden, der ohne uns stattfindet, der automatisiert abläuft. Ab und zu dürfen wir mal mitgestalten, aber eigentlich haben wir schon längst die Souveränität verloren.
Armin Nassehi: Der Soziologe Niklas Luhmann sprach von einer „unsichtbaren Technik“. Bei mechanischer Technik können wir wenigstens noch so ungefähr nachvollziehen, was passiert. Wir müssen es nicht verstehen, aber wir können es nachvollziehen. Jetzt können wir es überhaupt nicht mehr nachvollziehen.
Tim Leberecht: Die Unsichtbarkeit führt auch zu spannenden ethischen Fragen. Einige behaupten, es gäbe eine Korrelation zwischen der Unsichtbarkeit und ethisch fragwürdigem Verhalten. Also nehmen wir zum Beispiel den Fall Volkswagen. Da gab es einen interessanten Artikel im New Yorker-Magazin. Die Grundaussage: Wenn die Auswirkungen des eigenen Handelns durch das digitale Verhältnis zum Objekt unsichtbar oder abstrahiert werden, spürt man auch keine ethische Verantwortung mehr. Es sei dann umso einfacher, Entscheidungen zu treffen, deren Auswirkungen man nicht mehr fühlt. Mich interessiert, wie man die Folgen des eigenen Handelns im digitalen Umfeld so sichtbar und anfassbar machen kann, dass man wieder einen intuitiven ethischen Bezug dazu hat.
Armin Nassehi: Die gleiche Geschichte kann man auch ohne Digitalisierung erzählen. Wir leben doch in einer Welt, in der wir sehr stark eingebunden sind in komplexe Prozesse, die wir nicht kontrollieren können. Das ist westliche Kultur pur, zu sagen: Wir sind das Subjekt der Verhältnisse. Wir haben Objekte, mit denen wir umgehen, und wir sind verantwortlich dafür, was damit passiert. Volkswagen ist ein sehr schönes Beispiel dafür, dass man einen Tunnelblick auf einen ganz bestimmten Parameter hat, also die Markteinführung eines Motors zu einer ganz bestimmten Zeit, und sich gar keine Welt vorstellen kann, in der das anders ist. Und schon hat sich die Situation verselbstständigt.
Tim Leberecht: Dieser Kontrollverlust, da gebe ich Ihnen Recht, findet auch ohne Digitalisierung statt. Das ist mein Problem mit dem Begriff des Human Centered Designs oder des Human-Centered-Denkens, das durch Design Thinking und andere Silicon-Valley-Ideologien jetzt Fuß fasst. Dieser Begriff der Humanisierung, den viele Unternehmen jetzt benutzen, beruht auf der falschen Annahme, dass wir viel mehr gestalten können. Es gibt viele Institute für humane Technologie und Human Centered Artificial Intelligence. Es gibt aber auch Bewegungen wie zum Beispiel indigene KI, die von indigenen Kulturen lernen oder auch vom Animismus in der japanischen Shinto-Kultur. Die sagen: Nein, wir sollten keine humanistische Ausrichtung der KI anstreben. Sondern eine KI, die viel breiter gedacht ist, die dem Leben Respekt zollt und nicht nur auf den Menschen ausgerichtet ist.
Armin Nassehi: Ich weiß nicht, ob KI jemandem Respekt zollen kann. Aber vielleicht ist das auch eine begriffliche Frage. Ich halte KI für doof. Intelligent nennen wir die Dinge dann, wenn sie so komplex sind, dass wir sie nicht überblicken können. Je komplexer die Reaktion ist, umso mehr rechnen wir Intelligenz zu. Das machen wir auch mit Maschinen, die eigentlich nur Programme abarbeiten, Listen von Anweisungen. Ich glaube nicht, dass KI in der Lage ist, alles berechnen zu können und Eindeutigkeiten herzustellen. Vielleicht muss man, bevor man über KI redet, über I reden. Menschliche Intelligenz ist in endlichen Körpern situiert. Das Besondere an unserer Intelligenz ist unsere Begrenztheit. Das Menschliche hat immer funktioniert, weil wir uns selber nicht kontrollieren können. Überträgt man das auf KI, so kann KI niemals bestimmen, wo sie beginnt. Wir auch nicht.
Wir laufen also Gefahr, KI zu überhöhen und zu sehr auf Big Data und Digitalisierung zu vertrauen? Provokante Gegenthese: Ist es nicht so, dass Unternehmen, die sich streng auf Zahlen, auf Mustererkennung, auf AI und Big Data verlassen, theoretisch alle Risiken kennen und keine Fehler mehr machen können?
Tim Leberecht: Natürlich nicht – aus verschiedenen Gründen. Die Wirtschaft ist ja voller Beispiele datengetriebener Unternehmen, in welchen rationale Entscheidungen getroffen wurden nach Analyse vieler Daten. Es gibt eine ganze Reihe an Beispielen von Unternehmen, die angeblich datenbasierte Entscheidungen getroffen haben, die sich im Nachhinein als falsch entpuppt haben.
Armin Nassehi: Die Formulierung, alle Risiken zu kennen, ist schon erkenntnistheoretisch sehr bedenklich. Risiken zeichnen sich dadurch aus, dass man etwas nicht kennt. Mittels Mustererkennung könnte man vielleicht die Unberechenbarkeit mancher Prozesse tatsächlich sehen, Dinge sichtbar machen, die sonst nicht sichtbar wären. Niemand kann sich herausstehlen aus der Frage: Was ist eine unternehmerische Entscheidung? Das diskutieren wir auch nicht erst seit der Digitalisierung. Seit es Wirtschaftswissenschaften gibt, simulieren die wissenschaftlichen Beobachter Eindeutigkeit. Man holt sich drei Leute ins Haus, die Charts zeigen, erhält mindestens zwei verschiedene Empfehlungen und muss am Ende unternehmerisch entscheiden. Das heißt: riskant entscheiden. Daran führt auch in einer digitalisierten Gesellschaft kein Weg vorbei.
![](https://img.youtube.com/vi/SY3gD2E1IoI/sddefault.jpg)
Hat die Digitalisierung unternehmerisches Denken oder unternehmerische Verhaltensweisen hervorgebracht, auch in puncto Entscheidungsfindung, die es ohne die Digitalisierung nie gegeben hätte?
Tim Leberecht: Das ist eine schwierige Frage. Ich habe insofern Schwierigkeiten damit, weil ich ja auch digital aufgewachsen bin. Also ich kenne die Wirtschaft sozusagen nicht in dem unschuldigen vordigitalen Zustand. Für mich haben digitale Technologien die Wirtschaft immer beschleunigt. Ich beobachte, dass Manager, insbesondere Führungskräfte, immer weniger Zeit haben zu reflektieren. Das liegt an den ganzen Stimuli, die die ganze Zeit auf uns einprasseln. Und in diesem ganzen Wust von Dauer-Stimuli ist es sehr schwierig geworden, Zeit zum Reflektieren zu finden. Genau diese Zeit, dieser Abstand, die Einsamkeit des menschlichen Denkens brauchen wir, um wieder herauszuzoomen, um uns herauszunehmen und eine Perspektive zu entwickeln, die das Ganze sieht. Es ist ja nicht nur eine rein rationale oder mathematische Tätigkeit, sondern eine zutiefst menschliche Reflektionsaufgabe. Viele Führungskräfte leiden darunter, dass sie eben nicht mehr diese Stunde haben, in der sie sagen: „Ich denke jetzt einfach mal ganz alleine nach.“ Achtsamkeit ist ein Riesentrend. SAP hat einen Head of Mindfulness. Daimler hat begonnen, Schweigeminuten einzuziehen in Meetings. Ich finde die Idee schön, mit quantitativen Formaten, also Daten zum Beispiel, Zeit zu verbringen. Also eine Meditation mit Daten. Anstatt sozusagen immer unter dem Zwang zu stehen, möglichst effizient Daten auszuwerten und sofort Schlüsse daraus zu ziehen.
Armin Nassehi: Willst du mein Datum sein?
Tim Leberecht: Genau. Von diesen Denkweisen können Führungskräfte und Unternehmen insgesamt profitieren.
![](https://img.youtube.com/vi/-FktVswl6-I/sddefault.jpg)