(Mehr) Mut zur Romantik in Zeiten der Daten
Ein Essay von Frank und Tim Leberecht
Damals als Redakteur in der Schülerzeitung, 1989, in der Rubrik „Gerüchteweise verlautete“ machten wir uns einen Spaß daraus, darauf hinzuweisen, dass eine Mitschülerin 18mal in 28 Tagen den Film „Club der toten Dichter“ im Kino gesehen hatte. „Tote Dichter“?! Ach, das klang so moralisch-romantisch, so verzerrt gewollt nach einem Begriff von romantischer Lyrik, dass Ironie besser erschien. Ich war sarkastischer Analyst, kein idealisierter Träumer, kein (– abgesehen von meinen selbstgeschriebenen Songs, die ich Anfang 20 mit einer dreiköpfigen Band als Gitarrist und Lead-Sänger zum Besten gab –) großer Romantiker. Allein, Todd Anderson in dem Film alias Ethan Hawke als blasser, verschüchterter Oberstufenjunge stand am Ende der „Coming-of-Age-and-Conformity“-Story auf, stellte sich auf den Tisch und sagte „Oh Captain, mein Captain“.
Die Suche nach Mehr
Mut?! – klassischer Begriff, zeitlos, der Läufer nach Marathon in der Antike hörte nicht auf zu laufen wegen Androhung und Furcht vor Stopp und Strafe. Sein Herz pochte. Wir selbst wollen seit Jahren entschleunigen und lassen dennoch Beschleunigung zu. Wirtschaft ist unser Kreislauf, Business und Beruf unsere Definition, die Suche nach mehr längst „competitive“, Wettbewerb unser Zuhause. Wir sind vielleicht mutig, indem wir in Konferenzen sitzen, das Programm abspulen, Business Lunch machen, Redaktionskonferenzen abhalten, erörtern, wer den besten Scoop hat, kundenorientiert sind und etc. All das (gehorsam) „delivern“, was Flexibilität, Globalisierung und individuelle Kapitalisierung uns im 21. Jahrhundert als selbstverständlich abverlangen. Manchmal kennen wir unsere Arbeitskollegen besser als unsere eigene Familie.
Wir, auch ich in meiner Funktion als CMO für eine global;e Designfirma, schaffen neue Räume für mehr Leistung. Ich mache PR und Text für das, wofür ich eintrete und aufstehe. Seit Jahren schon. Ich bin glücklich darin. Ich gehe voll drin auf.
Dennoch: Ich will manchmal mehr. (Manchmal mehr von dem, was da zu pflücken ist an Glück). Ich möchte es anders haben. Ich will es anders gestalten. Ich bin Business, doch bin ich manchmal vom Business entfremdet. Ich war nie Marxist oder so noch „Grün“, Demonstrationen waren mir immer zu gefährlich, Entfremdung beflügelte mich eher zu Individualität. Ich meine, mich selbst zu kennen: Ich bin globalisiert, neugierig, erfolgreich, sozial weltweit super vernetzt, familiär, diszipliniert, offenherzig, kosmopolitisch, akademisch, herzlich, charmant.
Bin ich auch mutig?! Sind wir mutig? Was kann Mut darstellen? Heutzutage, in Zeiten von Big Data, gewandelter Kapitalismuskritik, Social Media und der Schnelligkeit und Allgegenwart des Business und der Quantifizierbarkeit?
Big Data
Big Data ist da zuvorderst erst einmal „big“, groß und gewaltig. Und „Data“ wenig personifizierbar. Anonymität schafft Angst. Daten und wir selber sind nicht greifbar. Wir werden unsichtbar in dem, was der Staat schafft als intransparente „Corporate“-Staats-Institutionen. Dennoch akzeptieren wir es. Mit Apple-Laptops verteidigen wir in „digital bohème-cafés“ in San Francisco, New York, Shanghai, Berlin oder München unsere Freiheit der, sagen wir mal, Freelance-Projekte, digitaler Freiheit und unser Recht auf Selbstbestimmung. Das Unromantische dabei: Wir kommunizieren gar nicht mehr richtig, nur zum Schein. Wir sitzen austauschbar irgendwo und vergessen bei dem Gebrauch das Leben. Sprachlos sitzen wir da mit Sicht auf unsere Notebooks, Tablets, unsere Arbeit, unsere Mails. Wir schauen mit Weitsicht, wir werden immer kurzsichtiger (Kurzsichtigkeit?! Das heißt medizinisch, dass wir blind werden gegenüber der Weitsicht).
Kulturpessimistisch: Wir haben unser wahres Selbst outgesourct. Kulturfreudig: Wir nehmen unser Notebook mit. Internet ist „Connectivity“, es ist zugleich auch die Furcht vor der Übermacht der Geschwindigkeit. „v=s geteilt durch t“. Das war einfach. Das gilt als physikalische Regel. Nun ist v= volume, velocity, variety und veracity. Das ist komplex.
Shoshana Zuboff, emeritierte Charles-Edward-Wilson-Professorin Harvard Business School, sagte bei einem Vortrag anlässlich des Sanssouci Media Colloquiums: „Die Analyse riesiger Datensätze begann als eine Methode zur Reduktion von Unsicherheit, indem man die Wahrscheinlichkeiten zukünftiger Muster im Verhalten von Menschen und Systemen untersuchte. Heute hat sich der Schwerpunkt geräuschlos verlagert.“ Ein Subkapitel war: „Was ist Mut?“ Ihre Forderung: „Lasst Euch nicht enteignen“.
Occupy
In Hongkong gingen sie letztes Jahr auf die Straße, um gegen den Einfluss von Beijing zu demonstrieren. Die chinesische Regierung hatte in einem White Paper im Juni 2014 klar gemacht, dass die Kontrolle über das Finanzentrum mit Tor zum asiatischen Markt zwar weiterhin über die autonome Stadtregierung ginge, letztere aber war gewählt und sollte weiterhin gewählt werden durch Kontrolle des Beijing-nahen Direktoriums. Anders als in der eigentlich angedachten Wahlrechtsreform gedacht.
In Hongkong, so sagte mir Chloé, Modedesignerin in Hongkong, gingen nun die Mutigen auf die Straße und ließen sich von der Staatsgewalt abtransportieren. Das „Business“ in Hongkong postulierte einen Brief, dass eben jener Protest der Stadt als Wirtschaftsfaktor schade. Die Bürger Hongkongs sagen als Botschaft „Lasst Euch nicht enteignen“: von Beijing und unmittelbarer Kontrolle.
„Occupy Central“ als Äquivalent der Bewegung von „Occupy Wall Street“ war in den Häuserschluchten des Hongkonger Finanzzentrums „Central“ schon längst vergessen, die Kritik an Kapitalismus abgeflaut, der Kapitalismus als Form nach der globalen Debatte über seine Krise wieder legitim. „Occupy Central“ erlebte jetzt ein Comeback – als so genannte „Umbrella Revolution“.
In New York saß ich gerade an Wall Street, veranstaltete einen „New-Business“-Event, um mein Buch zu promoten. Ganz andere Welt, ganz andere Menschen. Ich fragte sie „Wo ist eure Romantik?“—„Ahm, habe nie darüber nachgedacht“, „Schwer zu finden“, waren die Antworten. Ich versuchte, „mehr“ zu finden in vielen zufälligen, so nicht intendierten Interviews. „Is there any romance in your job“, ?, fragte ich. „Hmmh, Romantik und Job?“…“Schön wärs“, sagte man mir.
Den Event veranstaltete ich ganz nah an Wall Street, ich stellte – klares Klischee – eine Flasche Rotwein auf das weiße Gedeck des Tisches. Die Zeltlager, die von „Occupy Wall Street“ dort sind, stehen auch da: als Mahnmal, als Zeichen des Infragestellens der „One Percent“.
Allein, ich hatte es mit meinem kleinen Protest anders gemacht. Ich war individuell. Ich kam mir großartig vor: alleiniger Bekämpfer von „Wall Street“. Ich hatte als Marketer das umgesetzt, was in meinem Herzen war. Ich fühlte tiefe Befriedigung, dass ich, Tim, der absolute Marketer mit Gutheißung des Business und seiner Befindlichkeiten, skeptisch gegenüber den „Grassroots“ und der manchmal moralinsauren Kapitalismuskritik, nun neben Wall Street saß – im Herzen des Business als Business-Romantiker. Es war mein eigener mutiger und wahrhaftiger Moment. Ich war glücklich.
Wir trauen uns selbst immer weniger
„Mut steht am Anfang des Handelns, Glück am Ende“, sagt der griechische Philosoph Demokrit. Es mag eine lange Zeitspanne sein zwischen dem, was den Anfang definiert und dem, was am Ende individuelles oder gesellschaftliches Glück ausmacht. Mutig zu sein, es zu wagen oder gar eine mutige – was auch immer das hehre Wort heißen mag – Tat in Betracht zu ziehen, beinhaltet immer mögliche Konsequenzen und Schaden für uns, – in privater, gesellschaftlicher oder beruflicher Hinsicht. Nichts zu tun, zu schweigen, nicht aufzustehen, zu akzeptieren, ist einfacher.
„Mut steht am Anfang des Handelns, Glück am Ende“, habe ich vorhin den Philosophen Demokrit zitiert. Der Satz ist zeitlos und fordernd zugleich. Er fordert uns dazu auf, für das einzustehen, was wir selbst als Bedeutung, Sinn und Glück empfinden. Er fordert uns auf, wir selbst zu sein. Unsere Träume zu leben, innezuhalten, zu zweifeln, zu handeln. „The Sky is the Limit“. Nur dass wir uns immer seltener trauen – sei es aus Alltags- und Bürotrott, Verpflichtungen, Akzeptanz des Gegebenen – diesen Himmel auch für uns selbst zu erobern und begehbar zu machen. Das klingt pathetisch, missionarisch und aus der Zeit gefallen?! – Nein, ich glaube, das ist zutiefst aktuell.
Revolutionen und neue technische Entwicklungen, wie wir sie gerade mit „Big Data“ erleben, legten immer den Grundstein für Skepsis, Konterrevolution, Hoffnung, Zwist, Debatte, Stagnation, Aufbruch. Sie erlaubten uns immer den Vergleich und die Begegnung mit dem „Alten“ und „Neuen“. Oder auch nur die kleinste romantische Einkehr in unser wahres Selbst. So wie es vergangene romantische Bewegungen in Literatur, Kunst und Kultur getan haben als Antwort auf die jeweiligen Herausforderungen ihrer Zeit.
Allein, betrachten wir Vergangenheit und Gegenwart, dann ist es immer ein Wort, das uns begegnet: „Mehr“. Wir geben uns nicht zufrieden – das ist toll. Anfang der Idee, der Innovation, des Neuen. Wir geben uns nicht zufrieden – das ist traurig. Wenn Mut am Anfang des Handels steht?! – – – Und Glück am Ende?! – – -Verlinken wir das doch. Und werden business-, romantisch-, gesellschaftlich- und individuell wahrhaftig mutiger!