Neue Fiktionen braucht das Land
Wir müssen lernen, besser zu manipulieren als die algorithmischen Manipulierer.
von Tim Leberecht
Wenige Wochen nach der Wahl Donald Trumps nahm ich in San Francisco an einem „Dinner zu Ehren der Wahrheit“ teil. Startup-Gründer und Tech-Manager diskutierten die Bedeutung von Wahrheit in Zeiten von Fake News sowie die Verantwortung Silicon Valleys. Am Ende des Dinners gestand einer der Gäste, seine Identität und seinen Standpunkt den ganzen Abend nur vorgetäuscht zu haben – als ironische Finte und zum Schock (und zur Erheiterung) aller. Die Lüge sitzt eben immer am Tisch. Eine Studie fand heraus, dass wir in 25 Prozent aller sozialen Interaktionen die Unwahrheit sagen. Der Psychologe Robert Feldman kam einst zu dem Schluss, dass die Mehrheit aller Menschen in jedem kurzen Gespräch mit einem anderen mindestens einmal lügt. Und Trumps produziert sogar einen Schnitt von 8.3 Lügen pro Tag.
Die Wahrheit bleibt eine zutiefst menschliche Domäne. Das heißt aber auch, dass wir akzeptieren müssen, dass Wahrheit immer subjektiv ist. Paradoxerweise schützen und bewahren wir die Wahrheit nur, wenn wir akzeptieren, dass es die eine Wahrheit nicht gibt. Was bedeutet dies für Manager und Führungskräfte? Zum einen müssen sie vor allem gute Geschichtenerzähler sein. Die vielbeschworene Authentizität, die so viele anstreben, ist nicht nur ein Resultat von hundertprozentiger Wahrheitstreue. Es reicht in der Tat nicht aus, immer die Wahrheit zu sagen. Wahr ist vor allem, was sich wahr anfühlt.
Fernen sollten Manager von dem Irrglauben abweichen, radikale Transparenz sei das Allheilmittel für Authentizität. Für die australische Vertrauensforscherin Rachel Botsman ist Transparenz sogar das Gegenteil von Vertrauen. Wer sein Unternehmen radikaler Transparenz aussetzt, der misstraut seinen Mitarbeitern und nimmt ihnen ein Stück Mündigkeit. Wenn alles im gleißenden Tageslicht geschieht, gibt
es keine Eigenverantwortlichkeit, keine Geheimnisse, keine schlechten Ideen. Demokratie mag im Dunkeln sterben, wie der Slogan der Washington Post warnt. Innovation aber stirbt in radikaler Transparenz.
Schließlich geht es noch um eine tiefere Wahrheit. Mark Zuckerberg mag uns versichern, bessere KI sei das wirksamste Mittel gegen Fake News. Aber gegen Algorithmen werden wir nicht mit besseren Algorithmen gewinnen, sondern letztlich nur, indem wir die besseren Geschichten erzählen. Mit den leicht abgewandelten Worten Paul Watzlawicks: Wir können nicht nicht manipulieren. Aber wir müssen lernen,
besser zu manipulieren als die algorithmischen Manipulierer. Gerade in revolutionären Zeiten wie diesen brauchen wir nicht nur Fakten, sondern vor allem auch neue Fiktionen (im milderen Marketing-Jargon gerne auch „Narrative“ genannt). Fiktionen machen uns Hoffnung. Hoffnung sei nicht wirklich eine gute Strategie, heißt es so schön. Falsch. Für Unternehmer und Führungskräfte ist Hoffnung das größte Pfund. Denn die Menschen vertrauen jenen, die ihnen am meisten davon geben.
Diese Kolumne erschien in der Mai/2019-Ausgabe des Magazins ada.