Projekt Spielwiese
von Markus Albers
Bei Audi muss die Kommunikationsabteilung nicht nur verkaufen, was sich andere ausgedacht haben, sondern darf frischen Wind ins Unternehmen bringen. Womöglich ist sie damit ein Trendsetter.
Die Zukunft der Mobilität wird bei Fingerfood und Schaumwein in Berlin Unter den Linden präsentiert. Audi verleiht dort den sogenannten Urban Future Award, und etwa 250 Menschen – Politiker, Journalisten, Mitarbeiter – sind hier, um sich das Spektakel anzuschauen. Zwischen die uniformen Business-Typen mischen sich zeitgemäße Bärte, gemusterte Riesenschals und Nerd-Brillen.
Das Event gilt im Unternehmen als wichtig: Der Vorstandsvorsitzende Rupert Stadler ist gekommen und der Marketingchef Luca de Meo ebenfalls. Nach den Häppchen werden die Gäste ins Atrium gelotst, die Show beginnt. Auf der Leinwand laufen Filme, in denen zu Elektromusik glitzernde Großstädte zu sehen sind, animierte Fahrzeuge und kluge Menschen aus vier Kontinenten, die sagen, wie sie Megacitys von Staus befreien wollen. Stadler findet große Worte über die „urbane Agenda“ des Unternehmens und eine Jahrhundertchance: „Das Auto muss wieder als begehrenswertes Objekt des Fortschritts gelten. Dafür müssen wir die Mauern zwischen Infrastruktur, öffentlichem und individuellem Verkehr einreißen.“
Für den flammenden Appell gibt es gute Gründe: Städter – zumal die jungen – finden Individualverkehr zunehmend weniger sexy. In vielen Großstädten rund um die Welt stehen Autos mehr im Stau, als dass sie fahren, und tragen nicht selten erheblich zur Luftverschmutzung bei. Beides senkt die Lebensqualität in Megacitys und macht das Produkt Auto potenziell weniger begehrenswert. Hersteller wie BMW, Daimler und Volkswagen haben darauf mit Elektroautos reagiert und mit Carsharing-Programmen. Audi ist bei Ersterem spät dran und probiert Letzteres gerade erst in einem Pilotprojekt in Stockholm aus. Wenn es aber stimmt, dass die Zukunft in Städten entschieden wird, und wenn die junge urbane Kundschaft auch künftig noch Audi kaufen soll, muss sich das Unternehmen etwas einfallen lassen.
Daher hat man sich mit Städteplanern, Architekten und Datenexperten zusammengesetzt und Projekte gestartet, die irgendwo zwischen Trendforschung und Produktentwicklung liegen, die nach Zukunftsmusik klingen und nach Marketing-Brimborium. Aus Mexiko Stadt kommt ein „Betriebssystem für urbane Mobilität“. Das Berliner Team will die Stadt „in ein flexibles System verwandeln, in dem alle Transportmittel nahtlos ineinandergreifen“. Aus Boston kommt ein „multimodaler Marktplatz für Mobilität“ und aus Seoul der Vorschlag, Autos künftig in rollende „Interfaces zur Stadt“ zu verwandeln.
Ungewöhnlich an der Initiative ist, dass sie zwar das Produkt und die Strategie betrifft, aber nicht von Ingenieuren oder dem Vorstand ausging, sondern von der Kommunikationsabteilung. Begonnen hatte es 2007 mit einer Analyse, wie sie Presseleute in Unternehmen ständig anstellen: Man blätterte in internationalen Zeitschriften. Dabei stießen die für Trendkommunikation zuständigen PR-Leute immer wieder auf das Thema Urbanisierung. Erstmals wohnten in diesem Jahr mehr Menschen in Städten als auf dem Land, darüber wurde berichtet. Autohersteller kamen aber in diesen Storys kaum vor, und wenn, dann nur negativ. Das typische Foto zum Urbanisierungs-Artikel: Riesenstau in Peking.
Also taten die Audi-Leute, was Trendbeobachter in solchen Situationen tun: Sie besuchten erst mal ein paar Konferenzen. Bei einem Vortrag über asiatische Megacitys im Rahmen der Frankfurter Design Annual lernten sie Christian Gärtner kennen. Der Vorstand der Agentur Stylepark war gut vernetzt unter Architekten wie Städteplanern und willens, dieses Netzwerk mit dem Autohersteller zu teilen. Dessen Mitarbeiter zeigten sich in Gärtners Erinnerung „fasziniert von diesen Diskussionen“ und fanden, „dass man doch daraus gemeinsam eine interessante Idee für Audi gestalten könne“. Stylepark bekam den Auftrag, ein Konzept auszuarbeiten.
Nach zwei Jahren Meetings und Workshops war es so weit: Gärtner und die PR-Leute durften vor dem Vorstand präsentieren. Der Agenturchef ist ein wortgewandter Verkäufer des eigentlich sperrigen Themas Stadtentwicklung, zudem versteht er Konzernlogik. „Um Vorstände zu erreichen, muss man komplexitätserhaltende Komplexitätsreduktion betreiben“, sagt er. Er fand dafür einen simplen Satz: „Das Auto hat die Stadt des 20. Jahrhunderts geprägt, und die Stadt prägt das Auto des 21.“ Heißt: Architektur, Infrastruktur und Regulierung entscheiden, wie Autos künftig noch aussehen dürfen. Dieses Argument überzeugte, und die Urban-Future-Initiative war geboren.
Jutta Frisch, die die Trendkommunikation heute leitet, beschreibt den Start so: „Wir wollten Teil des Dialogs sein, statt dass nur über uns geredet wird.“ Das wäre noch klassische PR gewesen. „Und gleichzeitig wollten wir analysieren: Was heißt dieser Trend für das Unternehmen?“ Das war plötzlich viel mehr als PR, das hatte – wenn man es ernst meinte – mit Unternehmensstrategie zu tun und mit Produktentwicklung. Die Kommunikatoren meinten es ernst. Sie wollten nicht nur nach außen die Story erzählen, dass sich Audi nun auch für Urbanisierung interessiert, sie wollten die Firma so verändern, dass das auch stimmte.
Nun ging es darum, Verbündete im Unternehmen zu finden. Zum Beispiel in der Produktionsplanung, weil Urbanisierung Auswirkungen darauf hat, wie und wo produziert wird. Oder in der technischen Entwicklung, weil viele künftige Techniken etwas mit der Stadt zu tun haben. So suchten sich die Kommunikatoren aus jeder Abteilung Leute, die bei ihrem „Insight Team“ mitmachen wollten. Wohlgemerkt nach Feierabend – keiner wurde freigestellt. „Das lief nicht auf dem hierarchischen Weg, bei dem man den Abteilungsleiter bittet: Nennen Sie uns drei Personen aus Ihrem Team“, so Frisch – was danach klingt, als sei dies bei Audi sonst das übliche Prozedere –, „sondern es waren immer solche, von denen wir wussten: Der oder die denkt weiter.“
Autobauer müssen über das Auto hinaus denken
Es war eine ungewöhnliche Initiative, denn normalerweise läuft es andersherum: Ingenieure tüfteln an neuen Ideen. Die Marktforschung befragt Kunden, was die wollen. Von den vielen Projekten der Entwickler werden nun die weitergetrieben, die auf Basis der Befragungen als erfolgsversprechend gelten. Und schließlich dürfen Marketing und Kommunikation dann draußen für das fertige Produkt trommeln.
Sprachrohr für von anderen verantwortete Produkte zu sein, das sei nicht ihre Definition von Kommunikation, sagt Jutta Frisch. Sie und ihre Kollegen sähen ihre Arbeit vielmehr als Filter und Membran nach außen, wollten darum von Anfang an involviert sein. „Wir verkaufen nicht nur, was andere machen, sondern sehen uns als Radar für Chancenfelder des Unternehmens. Wir sind keine klassischen Pressesprecher. Wir entwickeln die Themen, über die wir reden.“
Klingt ambitioniert, liegt aber, glaubt man jedenfalls manchen Fachleuten aus den USA, im Trend. In den vergangenen Monaten prophezeiten das amerikanische Wirtschaftsmagazin »Forbes« und die Unternehmensberatung McKinsey, dass künftige Vorstandsvorsitzende aus dem Marketing kommen könnten.
Jedenfalls gewinnen Kommunikatoren und Marketing an Einfluss, hat Tim Leberecht beobachtet, der nach Jahren als Marketingchef der Innovationsberatung Frog Design und jetzt des renommierten US-amerikanischen Architekturbüros NBBJ ein alter Hase in der Branche ist. Er sieht „bei Fortune-500-Unternehmen, dass Marketing und Kommunikation heute wesentlich prominenter in strategische Entscheidungen eingebunden sind als noch vor Kurzem“. Leberecht hat gerade ein Buch veröffentlicht, in dem er dafür plädiert, dass Unternehmen statt Managern heute „Wertearchitekten“ brauchen, und dafür seien die Kommunikationsexperten prädestiniert, weil sie alle Abteilungen kennen und neue Strömungen von außen ins Unternehmen hineintragen. „Die Grenze zwischen externer und interner Öffentlichkeit verschwimmt. Darum ist die Möglichkeit, extern etwas zu machen, was dann intern Druck erzeugt, so groß wie nie.“
Leberecht nennt das „Outsourcen von Strategie“ und hält die Audi-Urban-Future-Initiative für ein Beispiel dieses Phänomens. „Marketing und Kommunikation sind Change Agents im Unternehmen. Sie können durch Kampagnen extern ein Versprechen aufbauen, das dann intern so viel Druck erzeugt, dass es strukturelle und organisationelle Änderungen geradezu nach sich ziehen muss.“ Für Frisch ist internes Agenda-Setting inzwischen sogar wichtiger geworden als Presse-Clippings, sprich: Statt wie sonst üblich nach der Veranstaltung veröffentlichte Artikel zu zählen, überlege man lieber, welche der gezeigten Innovationsideen am schnellsten im Konzern umgesetzt werden können.
Nach der Preisverleihung steigen die Audi-Leute in Shuttle-Busse, fahren zum Kurfürstendamm, in die sogenannte Audi City, eine Art Flagship-Store mit Bildschirmen. Das oberste Stockwerk ist heute fürs Publikum gesperrt, Nachbesprechung der Preisverleihung, bevor es wieder zurück in die Zentrale nach Ingolstadt geht.
Die Urban-Future-Initiative gibt es offiziell seit 2010, und Thomas Müller war gleich im ersten Jahr dabei. Er sagt, was alle hier sagen. Am Anfang war es vielleicht eine PR-Inszenierung. Doch inzwischen hat es intern beim Autobauer erstaunlich viel verändert: „Automobilisten denken immer rund ums Produkt, um die Babys, die sie erschaffen. Aber so wie sich das Auto zunehmend vernetzt, müssen wir uns ebenso vernetzen – mit Städten und Stadtplanern.“
Neue Impulse für die Produktenwicklung
Müller leitet die Entwicklung von Fahrerassistenz-Systemen, also alles von der Einparkhilfe bis zum selbstfahrenden Auto. Er freut sich, dass sein Arbeitgeber ihm dank der urbanen Zukunftsinitiative mehr Spielraum gibt. Zum Beispiel arbeitet Audi jetzt an Wagen, die automatisch, also platzsparender parken, weil dann Parkhäuser künftig kleiner gebaut werden können. Stadtplaner und Investoren finden so etwas gut. Oder: Audi lässt in Städten wie Berlin manche seiner Modelle mit Verkehrsampeln kommunizieren, um dem Fahrer die perfekte grüne Welle vorauszusagen. Beides soll erst der Anfang einer Entwicklung sein, die das Auto zunehmend mit seiner Umgebung vernetzt. Car-to-X-Kommunikation heißt das bei Ingenieuren.
Und so beeinflusst ein Thema, das ursprünglich vor allem für Journalisten gedacht war, die bei Autobauern eigentlich heilige Produktentwicklung. Eine PR-Idee verändert einen Ingenieurs-Konzern. Das hat auch Frank Rimili erlebt, bei Audi Designer für Konzeptfahrzeuge, der im Berliner Urban-Future-Team mit einem Architekten, einem Aufzug-Experten und einem Neurowissenschaftler die Idee entwickelte, dass statt Autos künftig Schwärme kleiner selbstfahrender Einsitzer durch Städte wuseln könnten. Die würden miteinander und mit anderen Verkehrsmitteln interagieren, den Passagier an ein vorher gewähltes Ziel bringen und sich dann selbst einen Parkplatz suchen.
„Die Vision geht in Richtung völlig neuer Fahrzeugarchitekturen“, sagt Rimili. „Ich habe eine große Sehnsucht danach, dass wir experimentell und avantgardistisch arbeiten. Ein Impuls dazu kommt über die Initiative.“ Dieser Prozess der Befreiung aus dem gelernten Produktportfolio sei ein bisschen so, als würde man Rennpferde von der Rennbahn auf eine große, grüne Wiese stellen. „Sie brauchen eine Zeit, bis sie diese Weite nicht als Bedrohung, sondern als Möglichkeit erkennen, frei loszugaloppieren. Und dann ist es Bewegung in ihrer freiesten Form. Die Kunst ist es, diese Freiheit wieder richtig zu kanalisieren.“ Hat der Exkurs in die Zukunft der Stadt dem Unternehmen etwas gebracht?
Der Ingenieur Müller sagt: eindeutig Ja. „Wir beschäftigen uns in der Entwicklung damit, wie die Zukunft aussieht. Wir können dabei nach innen schauen oder nach außen.“ So haben sie zum Beispiel in Mailand den Architekten einer Großbaustelle getroffen, „der braucht unbedingt einen Parkpiloten, weil dieser Fläche und damit Kosten reduzieren würde. Das ist natürlich ein ganz neues Erlebnis für einen Entwickler, der normalerweise eine rein automobile Perspektive hat.“ Klassische Marktforschung hätte bei Kunden vermutlich keinen ausgeprägten Wunsch nach selbstparkenden Autos festgestellt. Erst im Kontext der Stadtentwicklung wird klar, dass Hersteller so etwas jetzt zur Serienreife bringen müssen. „Wir erkennen, wo die Reise hingehen kann und richten die Entwicklungsenergie entsprechend aus.“
Zwei Wochen nach der Preisverleihung. Ein Bürogebäude in Ingolstadt, von außen sieht man nur eine Bäckerei und ein Fitnessstudio. Im ersten Stock ein unauffälliges Klingelschild: I/GP-X Kommunikation Kultur & Trends. Am Ende eines Ganges der „Kreativraum“. Innen ein paar grüne Sitzwürfel, an der Wand illustrierte Schlagworte wie „Sustainable Hedonism“ oder „Energies of Data“. Hier, zehn Minuten von der Audi-Zentrale entfernt, ist der Treffpunkt der Urban-Future-Initiative.
Jutta Frisch sitzt heute mit Christian Gärtner und Audianern zusammen, um zu besprechen, wie man die Ergebnisse der diesjährigen Preisverleihung ins Unternehmen einspeisen kann. Stefan Andreas Bauer, der sich um Software-Architektur kümmert, nutzt den Schwung des Trendthemas, um seine eigene Agenda besser durch Entscheidungsstrukturen zu bringen: „Wir müssen den Ingenieursschleier mal wegschieben.“ Autohersteller sind lange ein geschlossener Kosmos gewesen, sagt er, sie müssten aber heute in Systemen denken, und das Auto sei auch nur Teil eines Systems.
„Wir haben sehr lange sehr gut allein funktioniert. Das gilt aber immer weniger“, sagt Anne Maier, die den Titel Leiterin Data Strategy /Analytics trägt. Klar, es habe immer schon Markt- und Trendforschung gegeben, aber die geschehe oft aus der Kundenperspektive heraus. Irgendwann habe man da jedes Argument gehört. Spannend sei hingegen der Kontakt mit Behörden und Städten. „Als Unternehmen sind wir klassischerweise nicht dafür prädestiniert, mit denen in Kontakt zu treten. Manchmal geht das sogar daneben. Im Rahmen dieser Initiative die richtigen Partner zu finden und richtig anzusprechen ist darum auch für unseren Fachbereich enorm wichtig.“ Durch die in PR geschulten Kollegen komme außerdem „noch mal Feuer dazu, auch Schub“.
Mitreden ist besser, als reguliert zu werden
Schnell wird klar, dass es bei der Urbanisierungsstory auch um Lobbying geht. Darüber mitzureden, wenn immer mehr Städte den Autoverkehr einschränken, wie das in London oder Peking bereits der Fall ist. Regulierung werde intelligent, sagt Gärtner, und finde in Echtzeit statt. Geben Städte bald zum Beispiel Anreize, um den Autoverkehr zu reduzieren, könnte Audi mit intelligenten Flotten Firmenkunden helfen, hier besser abzuschneiden. Städte wiederum haben mit der Urban-Future-Initiative erstmals im Unternehmen einen Ansprechpartner für die sogenannte Smart City.
Die letzte Station in Ingolstadt ist für viele Besucher eine Werksführung durch die Produktion. Hier scheint es, als gäbe es die Diskussion um Urbanisierung nicht. Hier werden Autos gebaut. Roboter schweißen Karosserien, Arbeiter montieren Elektronik, am Ende steht da ein Fahrzeug. Modern gestaltet, technisch imposant – aber eben eines mit vier Rädern und einem Lenkrad, so wie sie es immer gemacht haben. Urbanisierung hin oder her, mit diesem Produkt verdient Audi sein Geld.
Heute macht Sabine Mayer die Führung. Sie kennt jedes technische Detail und erklärt mit Hingabe, was alles geschehen müsse, damit da am Ende ein A3 stehe. Es ist eine ungebrochene Hymne an den Autobau. Erst als die Führung vorbei ist und sie erfährt, dass der Besucher eigentlich wegen der Urban-Future-Initiative da ist, legt sie die einstudierte Rolle ab. Nein, es gehe wirklich so nicht weiter mit dem Individualverkehr, sagt sie da. Bei Audi würden Werksbesucher sogar mit dem Shuttle vom Bahnhof abgeholt, obwohl doch Schienen mitten durchs Werksgelände führen. Sie hat die angenehm verrückte Idee, dass man Personen doch statt mit dem Auto auch mit einer Gondel über die Produktionshallen transportieren könnte. Und findet jedenfalls, dass die Sache mit den alternativen Mobilitätsformen genau das sei, was ihr Arbeitgeber in Zukunft brauche.
Sieht aus, als habe sich tatsächlich etwas getan.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in Brand Eins.