Spiele und Ziele: Was brauchen Kinder wirklich?
Tim Leberecht zeigt in seinem Buch zur Business-Romantik, dass sich Denken auch im Leben eines Erwachsenen nicht beschleunigen lässt.
von Dr. Alexandra Hildebrandt
Haben und Sein
Die aktuelle Umfrage der Huffington Post (Was brauchen Kinder wirklich?) hat viel mit uns selbst zu tun, denn so wie wir mit den Dingen umgehen, werden es auch (unsere) Kinder tun.
Hinzu kommt, dass die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft auch maßgeblich davon abhängt, wie wir das Kind in uns bewahren können – jenes Kind, das die frühkindliche Hilflosigkeit bereits hinter sich gelassen hat und aufgeschlossen für alles Neue ist.
Der Sänger der norwegischen Band a-ha, Morten Harket, schreibt in seiner Autobiographie “My Take On Me”, dass jeder Lehrer, der ein Klassenzimmer voller Kinder inspirieren kann, Gold wert ist – “er oder sie erschließt das Potenzial, das ein Land wachsen und gedeihen lässt”.
Viel Spielzeug brauchte er als Kind nicht. Erste Schauplätze und Lernorte waren für ihn Wiesen, Wälder und Seen.
Als er die Musik entdeckte, ging es nicht um die Anschaffung von Instrumenten, sondern zuerst um ein inneres Erleben:
“Obwohl ich noch so klein war, erkannte ich plötzlich eine elementare Kraft, die Macht der Musik. Es war ein rein emotionales Verstehen, ebenso wie ich die Schönheit der Natur begriffen hatte.”
Ihm musste nichts beigebracht werden. Das Kind Morten “wusste” von allein, wie es ging. Es fühlte es instinktiv. Wenn ihm jemand erzählen wollte, wie etwas funktioniert, so zeugte das “von mangelndem Respekt gegenüber einer Macht”, die Morten Harket im Rückblick als größer als er selbst beschreibt.
Wie die Schauspielerin Valerie Niehaus liebt er das Denken. Es ist wichtig, dass schon Kinder zuweilen auch auf sich allein gestellt sind, um es zu lernen.
Tim Leberecht zeigt in seinem Buch zur Business-Romantik, dass sich Denken auch im Leben eines Erwachsenen nicht beschleunigen lässt, “indem man im Netz nach dem nächsten großen Ding sucht, studiert, was die Konkurrenz macht, anderen sagt, was sie tun sollen, und sie dann dabei überwacht oder sich den Terminkalender mit Meetings vollpackt. Man braucht dafür einen unabhängigen, einen einsamen Kopf”. Schon in der Kindheit.
Rüstzeug zum Weltverständnis
Als junger Mensch hat Morten Harket die Welt vor allem mit den Händen begriffen und sich vor allem handwerklich betätigt, was wiederum einen prägenden Einfluss auf sein Denken hatte.
Es ist kein Dogma, dass alle Waldorfschüler_innen im Werkunterricht einen Holzlöffel und eine Schüssel schnitzen müssen, denn es zeigt sich, dass sich gerade an diesen beiden Werkstücken die für das Kindheitsalter wichtigen Fähigkeiten gut erwerben lassen.
Dabei geht es um die Schulung des Wollens und Könnens, das durch unterschiedliche Handwerkstechniken vermittelt wird.
Die Nachhaltigkeitsexpertin Claudia Silber, die bei einem Öko-Versand die Unternehmenskommunikation leitet, bemerkt in diesem Zusammenhang:
“Politiker, Eltern, Lehrer und Erziehungswissenschaftler haben häufig unterschiedliche Vorstellungen davon, womit, wann und wie Kinder am besten spielen und sich optimal entwickeln können. Es sollte eine gute Mischung sein.
Sicherlich können Kindern aktuelle ‚Trends’ wie Playstation, Videospiele etc. nicht ganz verwehrt werden, aber das sollte im Rahmen und auch unter Aufsicht bleiben.
Schön finde ich es, wenn altes Spielzeug wieder aufbereitet und dann von den Kindern verwendet wird. Das hat sicherlich auch einen nachhaltigen Wert. Wichtig wäre meiner Meinung nach auch, dass Eltern zusätzlich darauf achten, dass Spielzeug Sinn macht und vor allem aus nachhaltigem und gesundem Material hergestellt ist.
Dennoch haben viele Kinder oft zu viel. Da ist es sicherlich eine Überlegung wert, weniger zu kaufen oder kaufen zu lassen und vielleicht das eine oder andere Stück an die Menschen zu spenden, die nicht in der Lage sind, ihren Kindern ständig etwas Neues zu kaufen.”
Baumeister der Digitalisierung sind auch Baumeister ihrer selbst
Wenn Deutsche über das Silicon Valley und die Digitalisierung schreiben, wird häufig nur das erwähnt, was sich buchstäblich nicht (!) fassen lässt. Es fehlen oft Verweise auf das Rüstzeug jener Menschen, die die Welt der Digitalisierung geprägt haben:
So sind Bill Gates, Mark Zuckerberg, Larry Page und Sergey Brin, Jeff Bezos und Jimmy Wales berühmte Montessori-Absolventen, das heißt: Sie sind nicht nur Baumeister der Digitalisierung, sondern auch Baumeister ihrer selbst.
Maurice de Hond hat die Steve Jobs School in Amsterdam ins Leben gerufen, wo es neben den Klassenräumen eine Bibliothek mit Selbstlernraum und einen Ruheraum gibt.
Hier stehen überall Sitzsäcke und gemütliche Sessel. Die meisten arbeiten mit einem Tablet in der Hand selbstständig an einem Thema.
Tablets werden vor allem für die Planung des Unterrichts eingesetzt und ermöglichen es den Schülern auch, selbstbestimmt zu lernen und zu entscheiden, ob sie in der Gruppe im Klassenraum lernen möchten oder im Selbstlernbereich.
Es gibt klassischen Unterricht – allerdings weniger frontal. Auch wenn es überall Tablets und AppleTV gibt – die analoge Welt ist hier genauso präsent: So malen Schüler Bilder malen oder “bauen” (!) aus Milchtüten und Papprollen eine Murmelbahn bauen.
Vieles in der “Tablet-Schule” erinnert an die Reformpädagogik: “Wenn Maria Montessori noch leben würde – dies wäre ihr Schule”, sagt Maurice de Hond.
Die Welt der Dinge
Nach der italienischen Ärztin, Reformpädagogin, Philosophin und Philanthropin Maria Montessori (1870-1952) sollten alle Kinder Baumeister ihrer selbst sein.
Natürlich werden digitale Kompetenzen in Zukunft immer wichtiger. Aber sie werden nicht ausreichen, um ein voll gelebtes Leben zu führen. Es braucht auch Schwergewichte des Handelns und den praktischen Zugriff auf die Welt der Dinge. Lebensklug ist es, das Internet nicht mit dem Leben zu verwechseln.
Deshalb ist es wichtig, schon Kindern zu vermitteln, dass ein Mensch in beiden Sphären kundig sein sollte.
Das Digitale in allen Lebensbereichen kommt von selbst auf uns zu – darum brauchen wir uns nicht den Kopf zerbrechen, aber um die nachhaltige Gestaltung des wirklichen und greifbaren Lebens sehr wohl.
Interessante Beispiele dafür finden sich auch im Buch “Business-Romantiker” von Tim Leberecht, der unter anderem auf TechShop verweist, eine Kette von Maker Spaces, die ihren Mitgliedern die Chance bietet, “Zeug zu bauen”:
“Für etwas mehr als 100 US-Dollar im Monat haben die Mitglieder Zugang zu offenen Werkstätten, Industriegeräten und Software, um ihre eigenen Produktprototypen zu bauen.”
Fertigungskulturen werden mit neuen Elementen der Co-Creation und der offenen Werkstattarbeit beleben: “Im Maker Movement ist alles Alte wieder neu.”
Dies ist kein Gegentrend zur Digitalisierung, sondern eine Parallelentwicklung, die zeigt, wie sich analog und digital ergänzen. So sind Onlineportale wie DaWanda und Etsy, auf denen Handwerkskunst aus etlichen Branchen angeboten wird, heute beliebter denn je.
Ein weiterer Trend, der damit zusammenhängt, ist die Rückbesinnung auf gute Manieren: Die wirklich Lebensklugen haben das Kind in sich niemals abgelegt und schöpfen noch immer aus dem Boden, der ihnen bereitet wurde, als sie klein waren.
Sie wissen allerdings auch, dass Rollen-Spiele zwar nicht immer etwas mit Authentizität zu tun haben, aber auch nichts Schlechtes sind, denn man muss in Gesellschaft auch “anders können”.
Zivilisierte Umgangsformen gehörten schon zu Goethes Modell der geselligen Bildung – einem Gesellschaftsspiel, in dem man so tut, als ob. Das Gehäuse seiner guten Formen nimmt der Gesellschaftsmensch mit als Schutz gegen “Chaos, Anarchie und Verwahrlosung” (Rüdiger Safranski).
Weitere Informationen:
Mensch sein: Darum ist Spielen für Wirtschaft und Gesellschaft ein Gewinn
Zum Thema Lernspiele:
Sonnige Aussichten: Warum die Zukunft jetzt beginnen muss
Literatur:
Tim Leberecht: Business-Romantiker. Von der Sehnsucht nach einem anderen Wirtschaftsleben. Droemer Verlag, München 2015.
Morten Harket: My Take On Me. Edel Germany GmbH, Hamburg 2016.
Dieser Artikel erschien zunächst in der Huffington Post.