Strategie ist wichtig – so lange sie sich jederzeit ändern lässt
Gedanken zum Damen-Gambit und dem Comeback von Strategie
von Tim Leberecht
Die Netflix-Sensation „Das Damengambit“ machte nicht nur Schachbretter wieder zu Kassenschlagern, sie sorgte auch dafür, dass strategisches Denken wieder populär wurde.
Das war nicht immer so. In den letzten Jahren verlor die Strategie ihren Rang als Königsdisziplin der Unternehmensführung und wurde immer mehr zur brotlosen Kunst, die dem Hochgeschwindigkeitswandel der Digitalisierung hinterherplante.
Und dann kam COVID. „Jeder hat eine Strategie, bis er einen in die Fresse bekommt.“ stellte Boxer Mike Tyson einst fest. Die Pandemie war dieser Faustschlag. Den Konzernstrategen und Strategieberatern wurde schnell klar, dass die Strategiepläne, die sie mühsam ausgeheckt hatten, nun schlichtweg obsolet waren. Statt detaillierter dreijähriger Planung wurden Improvisation sowie das vielbeschworene Buzzword Agilität zur alternativlosen Realität.
Jetzt aber wieder gibt es wieder eine Wahl. Die meisten Firmen haben sich sortiert, und wir erleben ein Comeback der Schachbrett-Strategen – allerdings mit veränderten Vorzeichen. Denn in der Regel scheitern viele Strategien. Eines der Probleme ist, dass viele Strategien gar keine sind, sondern nur eine Auflistung von Zielformulierungen und Performance-Kennzahlen, wie der Strategie-Professor Freek Vermeulen anmerkt. „Wir wollen unsere Entwicklungskosten reduzieren“ – das ist keine Strategie, sondern ein Ziel.
Aber was genau macht dann Strategie aus? Der Wagniskapital-Investor Ben Horowitz aus dem Silicon Valley meint: „Deine Strategie ist Deine Story, und Deine Story ist Deine Strategie.“ Damit deutet er darauf hin, das Herzstück einer jeden Strategie eine Vision ist, und zwar eine, die polarisiert und klarmacht, wofür das Unternehmen steht – und eben auch nicht. Wie jede Erzählung ist Strategie vor allem auch Auslese. Sie bedeutet Alternativen auszuschließen. Klar Stellung zu beziehen. Denn: Ohne Position keine erfolgreiche Positionierung.
Die amerikanischen Plattform-Giganten sind darin besonders gut: Man kann Amazon oder Airbnb zurecht für ihr Geschäftsgebaren kritisieren, aber ihre Strategien sind so effektiv, weil ihre Visionen – „Kundenzufriedenheit über alles“ (Amazon) oder „eine Welt, in der sich mehr Menschen zuhause fühlen“ (Airbnb) – so klar sind. Gerade deswegen sind sie flexibler, ihre Geschäftsmodelle und Vermarkungsstrategien schnell anzupassen, wie dies Airbnb in der Pandemie eindrücklich bewiesen hat.
Anstatt ein Maximum an Sicherheit zu schaffen, muss Strategie zukünftig ein Maximum an Unsicherheit zulassen. Dieses Denken verkörpert nicht zuletzt der Streaming-Anbieter Netflix, der in seiner vielgerühmten Unternehmenskultur Kontrolle durch individuelle Freiheit, Regeln durch Prinzipien, und detaillierte Planung durch ständige kreative Neuerfindung ersetzt.
Genau jene Eigenschaften, die auch Schachgenie Beth Harmon in „Damengambit“ zum Erfolg verhalfen.
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Dieser Text erschien in der März-Ausgabe des Magazins ada.