Verlieren können, ohne Verlierer zu sein – Der neue Humanismus
Auszug aus der Keynote von Tim Leberecht beim Serviceplan Innovation Day
Die Digitalisierung fördert die Daueroptimierung und maximale Effizienz in der Arbeitswelt. Doch wo bleibt der Mensch und das Menschliche? Wir brauchen eine romantische Revolution, sagt der weltweit gefragte Berater und Keynote-Speaker Tim Leberecht. Mit seinen drei Regeln der Business-Romantik beschreibt er den Weg zu einer neuen Denkweise und Unternehmenskultur.
Im Frühjahr 2021 kursierte dieser wunderbare Tweet: „I do not want to have a career. I want to sit on the porch.” Er bekam über eine halbe Million Likes. In Südostasien, Japan und China haben junge Menschen damit begonnen, sich einfach flach auf den Boden zu legen. Das Ganze nennt sich „Lying Flat”-Bewegung und ist eine Form des radikalen, stillen Protestes gegen unbedingten Wettbewerb und zwanghafte Produktivität. Ich glaube, diese tiefsitzende Enttäuschung und Frustration in Bezug auf unsere Art zu arbeiten empfinden wir alle ein Stück weit. Wenn man sich die Organisationsstrukturen in vielen Unternehmen anschaut, die bei den Mitarbeitenden vornehmlich Druck und Angst erzeugen, ist es kein Wunder, dass nur ein Drittel aller Angestellten weltweit bei der Arbeit voll engagiert ist. Der Rest steckt im inneren Exil. Die London School of Economics hat herausgefunden, dass nur eine einzige Beschäftigung als weniger begehrenswert wahrgenommen wird als Arbeit, und das ist Kranksein. Eine Rekordzahl an Arbeitnehmer:innen hat über die letzten 18 Monate geplant, ihr Unternehmen zu verlassen, oder hat es bereits getan. Und die Depressions-, Stress- und Angstlevels steigen weltweit.
Die Digitalisierung hat bei dieser Entwicklung nicht unbedingt geholfen. Im Gegenteil, digitale Technologien haben vor allem eines getan: Effizienzen skaliert und den Zwang zur Daueroptimierung noch mal verstärkt. Und zwar zunehmend nicht nur die objektive Performance der Menschen, sondern auch unsere subjektive Performance. Das heißt unsere Gefühle und unsere Beziehungen. Nehmen Sie das Productivity-Score-Dashboard, das alle Daten über alle Microsoft-Applikationen hinweg aggregiert – nicht nur im Sinne eines Technology-Scores, sondern auch im Sinne eines People-Experience-Scores. Ich glaube, die große Gefahr ist nicht, dass wir Menschen von smarten Maschinen ersetzt werden. Die viel größere Gefahr ist, dass wir Menschen selber zu daueroptimierten, smarten Maschinen werden. Die Frage ist nicht, ob Maschinen denken werden können. Die Frage ist, werden wir Menschen noch fühlen können? Und: Wenn alles berechenbar geworden ist, vorhersehbar, quantifizierbar, wo finden dann noch jene Erlebnisse, jene Erfahrungen statt, die unsere Routinen durchbrechen? Wo ist die Schönheit, das Unerwartete, die Überraschung, die Magie – wo ist die Romantik?
Wir waren schon einmal an einem solchen Punkt der großen Entzauberung. Das war Ende des 18. Jahrhunderts, als die Dichter und Denker der romantischen Bewegung gegen das Diktat der aufklärerischen Vernunft aufbegehrten. Die Aufklärung war die vorherrschende Philosophie der damaligen Zeit, und die Romantiker sagten: Nein, das Weltbild der Aufklärer ist uns viel zu eng, viel zu reduktionistisch, um die komplexe Seelenlandschaft des Menschen wirklich zu verstehen. Diesem Weltbild setzten sie Werte und Qualitäten entgegen wie Subjektivität, Emotionalität, Transzendenz, Mehrdeutigkeit, Unberechenbarkeit, Sehnsucht, Leidenschaft. Ich glaube, wir sind heute an einem ähnlichen Punkt angekommen. Und ich glaube, wir brauchen eine neue romantische Revolution. Diesmal gegen eine Entzauberung, verursacht durch die Quantifizierung, die Mechanisierung, die Automatisierung. Denn wenn Maschinen das erledigen, was effizient erledigt werden kann und muss, dann ist die wichtigste und vielleicht einzig verbleibende Tätigkeit für den Menschen jene Arbeit, die schön gemacht werden muss. Mit Fantasie, Empathie, Hingabe, Liebe.
Wie aber rationalisiert man Romantik in Unternehmen, ohne den Geist und das Wesen der Romantik dabei zu verlieren? Es gibt drei Gestaltungsprinzipien, die dabei helfen können. Wir nennen sie die Regeln der Business-Romantik,.
Die erste Regel lautet: Tue das Unnötige! Ich war Marketingleiter bei einer Firma, die das Resultat einer Fusion war, und zwar zwischen einer mittelgroßen IT-Outsourcing-Firma mit 9000 Softwareentwicklern vorwiegend aus Indien und der Ukraine und einer Design-Firma mit 1000 Designern von der Westküste Kaliforniens. Zwei völlig unterschiedliche Kulturen. Um diese beiden Kulturen zusammenzubringen und eine gemeinsame Unternehmenskultur zu schaffen, beschlossen wir, eine neue Dachmarke zu launchen. Die Markenfarbe war Orange. Wir saßen im Managementmeeting und gingen den Launch-Plan durch. In letzter Sekunde entschlossen wir uns, die 10.000 orangefarbenen Luftballons zu streichen, die wir ursprünglich an die Mitarbeiter hatten verteilen wollen. Der Chief Financial Officer sagte: „They are not mission critical.“ Die Entscheidung, die Ballons zu streichen, sollte den Anfang vom Ende markieren. Denn die „Kill-the-orange-balloons“-Mentalität zog sich wie Gift durch alle weiteren Handlungen, und die Fusion scheiterte. Wenn man das Unnötige streicht, dann streicht man alles. Schön zu führen, bedeutet, mehr zu tun als unbedingt notwendig. Was immer Sie auch tun, streichen Sie nie Ihre orangefarbenen Luftballons.
Der deutsche Unternehmer Alfred Kärcher hat mal gesagt: „Unsere Kunden und Mitarbeiter bleiben uns nicht treu aufgrund dessen, was wir tun, sondern wer wir sind.“ Damit bezog er sich auf den Geist und die Seele einer Kultur. Es ist genau dieses Unsichtbare, dieses Nicht-Quantifizierbare, das die Grundlage für eine Beziehung mit Mitarbeitern und Kunden bildet, die nicht auf dem Nutzen basiert, sondern auf etwas viel Wesentlicherem, Stärkerem, nämlich Intimität. Deshalb lautet die zweite Regel der Business-Romantik: Schaffe Intimität! Ich habe neulich eine Studie gelesen, die besagt, dass Amerikaner im Schnitt nur zwei enge Freunde haben. Dieser Wert ist in den meisten westlichen Ländern nicht großartig anders und hat sich über die letzten Jahre so rapide verschlechtert, dass Soziologen inzwischen von einer Einsamkeitsepidemie sprechen. Das ist schon erstaunlich, wenn man bedenkt, dass wir noch nie so vernetzt und noch nie so kommunikativ waren wie heute. Wir checken unser Smartphone im Schnitt 80-mal am Tag. Und doch sind wir isolierter und einsamer als je zuvor. Wie kann das sein? Der Autor Richard Bach hat die Atnwort: „Das Gegenteil von Einsamkeit ist nicht Vernetzung, sondern Intimität.“
Wie aber schaffen wir Intimität, und von wem können wir hier lernen? Künstlerinnen und Künstler sind absolute Meister im Schaffen von Intimität. Das Staatstheater Stuttgart begann letztes Jahr zu Hochzeiten des Lockdowns sogenannte Eins-zu-eins-Konzerte zu veranstalten. Eine Musikerin oder ein Musiker musizierte für zehn Minuten ein Stück für einen Gast. Erstmal schaute man sich still in die Augen, und dann gab es ein sehr intimes, exklusives Konzert. Die Reihe wurde über Stuttgart hinaus superpopulär. Sie steht für jene Art von echter Präsenz, die eben nicht schlank ist und nicht effizient. Es gibt auch radikalere, experimentellere Formate, zum Beispiel Silent Dinners: Die Teilnehmer gehen in einen Raum, die Musik hört auf, und plötzlich ist nur Schweigen. Für 90 Minuten. Das ist sehr seltsam, zum Beispiel mit 20 CMOs oder CEOs schweigsam zu essen. Aber das Schöne ist, nach zehn, 15 Minuten fallen die Masken, Menschen werden verletzlich, und im Schweigen findet man eine viel schönere Art des Austausches als im üblichen Networking-Chitchat. Aus diesem Grund beenden wir unsere Zusammentreffen im House of Beautiful Business immer mit Schweigen.
Und wie sieht es mit der Intimität in Kundenbeziehungen aus? Nehmen Sie zum Beispiel Buurtzorg. Der holländische ambulante Pflegedienst hat vor einigen Jahren etwas ganz Radikales gemacht: Sie haben alle Jobtitel, alle Hierarchien entfernt und stattdessen kleinen Teams von Krankenpflegerinnen und Krankenpflegern das Mandat gegeben, immer das zu tun, was im Interesse des Kunden, also des Patienten ist. Zwei Sachen sind passiert: Sie sind wahnsinnig erfolgreich, sehr gewachsen, und die Kosten pro Patient sind gesunken. Das heißt, sie haben bessere, effektivere Entscheidungen getroffen, weil sie diese nicht auf der Basis von aggregierten Daten getroffen haben, sondern auf der Basis von intimen, echten Kundenbeziehungen.
Kann es auch Intimität zwischen Mensch und Maschine geben? Studien belegen, dass Menschen sehr wohl in der Lage sind, sehr schnell eine emotionale Beziehung zu Maschinen aufzubauen. Man muss nur an das Auto denken. Aber ist das das Gleiche wie Intimität? Ich würde sagen Nein. Denn Intimität bedarf einer zutiefst menschlichen Eigenschaft, nämlich Verletzlichkeit. Es gibt keine Intimität ohne Verletzlichkeit. Und es gibt keine Verletzlichkeit ohne eine zutiefst romantische Eigenschaft, nämlich leiden zu können. Verlieren zu können. Loslassen zu können.
Und das ist die dritte Regel der Business-Romantik: Lass los! Wir lernen schon als Kinder, dass wir spielen, um zu gewinnen. Ich glaube aber, wir alle werden in Zukunft lernen müssen, zu verlieren. Denn wir werden öfter verlieren: Wir werden die Kontinuität und Stabilität von traditionellen Anstellungen verlieren. Die Kontrolle über unsere Marken auf sozialen Medien haben wir schon verloren. In immer flacheren und dezentraleren Hierarchien werden wir als Führungskräfte die Autorität verlieren. Wir werden zwischen verschiedenen Kulturen, Identitäten und Netzwerken wandeln. Wir werden schneller Beziehungen eingehen und auch wieder loslassen müssen. Wir werden uns immer wieder neu erfinden müssen. Für all das brauchen wir eine neue Form der emotionalen Agilität, die uns hilft, loszulassen und mit diesen schnellen Veränderungen, dem nicht immer alles Wissen und dem Verlieren klarzukommen. Es ist genau diese emotionale Agilität, die eine neue Garde an Führungsfiguren verkörpert: zum Beispiel Jacinda Ardern, die Premierministerin von Neuseeland, die einmal gesagt hat, man müsse nicht aggressiv sein, um seinen Standpunkt durchsetzen zu können. Oder Ada Colau, die Bürgermeisterin von Barcelona, die in einem Rathaus-Meeting gesagt hat: „Ich habe keine Antwort auf Ihre Frage, ich muss erst mal darüber nachdenken.“
Das also sind die drei Regeln der Business-Romantik: Tue das Unnötige, schaffe Intimität und lass los! Sie markieren einen tiefgreifenden kulturellen Wandel. Weg von einem datenbasierten, smarten Zeitalter, von Business as usual, hin zu einer neuen romantischen Ära, oder wie wir das nennen: Beautiful Business. Vom Planen zum Spüren, von formal und streng zu fluid und flexibel in Strukturen. Vom Expliziten und Zahlenbasierten zum Mehrdeutigen und Poetischen. Von Big Data zu Big Intuition. Von risikoscheu zu verletzlich und phantasievoll. Von immer happy zur Erlaubnis, traurig sein zu dürfen. Von Effizienz zu Tiefe, von Human-centered zu Life-centered. Und von Antworten zu Fragen. Ich glaube, dieser Wandel ist extrem wichtig. Wir sind einsamer und isolierter als je zuvor, wir ertrinken in einer Flut an Daten und Informationen, aber das vorherrschende Gefühl unserer Zeit ist das des Verlustes. Wir verlieren ein stückweit unsere Identität, unsere Geschichte, vielleicht sogar unsere Handlungsfähigkeit vor dem Hintergrund von KI und Automatisierung. Deswegen ist es so wichtig, dass wir Unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, die keine Maschinen sind, sondern Gärten. Die nicht nur nützlich sind, sondern schön. Und ich glaube, wenn wir es schaffen, die Magie und die Kraft exponentieller digitaler Technologien mit jenen zutiefst menschlichen Eigenschaften zu kombinieren, die für mich eben romantische Qualitäten sind, dass wir dann nicht nur exponentiell effizienter sein können oder exponentiell produktiver, sondern auch ein kleines bisschen menschlicher.
Dieser Text erschien zunächst im Magazn TWELVE.
Video-Interview mit Tim Leberecht
https://www.youtube.com/watch?v=1q8CDSjlkCA