Verliert die analoge Kultur den Kampf gegen die Datenflut?
Verlernen wir angesichts der Omnipräsenz digitaler Tools den Umgang mit unvermittelter Realität? Müssen wir das Irrationale neu einüben? Ein Plädoyer für Schönheit, Intimität und Langeweile.
Tim wurde portraitiert in Markus Albers’ neuem Buch “Digitale Erschöpfung” und das entsprechende Kapitel erschien als gekürzte Version auch auf Intrinsify:
von Markus Albers
Könnte es sein, dass wir es in der aktuellen Faszination für das stark durch Rationalität, Effizienz und Technologie geprägte Neue Arbeiten übertreiben? Dass das Pendel zu stark in eine Richtung ausschlägt und wir – überspitzt gesagt – dabei sind, Kernattribute dessen abzuwerten, was uns als Menschen ausmacht? Wo bleiben Irrationalität, Impulsivität und freie Assoziation, wenn all unsere professionellen Interaktionen maschinenvermittelt sind, durch Algorithmen optimiert und von scheinbarem Ballast befreit, aber auch von jeder Spontanität?
Konkreter gesagt: Wollen wir wirklich eine Arbeitswelt, die nicht nur in jeden Bereich unseres Lebens einsickert, sondern die dieses Leben dann auch noch zunehmend einer binären Produktivitätslogik unterwirft: Nachrichten werden auf den Punkt geschrieben, kein Platz für Nebensächliches. Das mäandernde Plaudern eines Telefonanrufs gilt schon als ineffizient, sogar störend.
Statt uns in der Kaffeeküche über das Wochenende zu unterhalten, treffen wir uns im digitalen Datenstrom der Kollaborationstools. Anstatt beim Spaziergang den Blick schweifen zu lassen, das Herbstlaub der Bäume anzuschauen, die Lichtreflexe auf der regennassen Straße, den spielenden Hund im Park, ist unsere Aufmerksamkeit mal wieder auf das leuchtende Rechteck unseres Smartphones fixiert.
Optimieren wir gerade die Schönheit – die per Definition nie zweckgerichtet ist – aus unserem Leben heraus? Gewöhnen wir uns so sehr an das Verwobensein einer permanenten digitalen Schicht von Arbeitskommunikation mit unserer sinnlichen Wahrnehmung, dass wir technologisch nicht angereicherte Reize als unzureichend empfinden? Verlernen wir gerade, ohne den permanenten Kick der Arbeits-Chats und -Messages zu leben?
Oder anders herum: Müssen wir anfangen, altmodisch Analoges wie einen Muskel zu trainieren? Und, wenn ja, wie könnte das aussehen?
Wir könnten uns gezielt sinnlichen Erlebnissen aussetzen, die nichts mit Technologie zu tun haben. Mit den Kindern Quatsch machen, ohne aufs Handy zu schauen. Eine Wanderung machen, ohne damit auf Facebook anzugeben. Essen genießen, ohne Fotos davon zu twittern. Laufen gehen, ohne die Durchschnittsgeschwindigkeit per App zu messen.
Zu diesen Themen habe ich für mein Buch „Digitale Erschöpfung“ mit Tim Leberecht gesprochen, langjähriger CMO von Frog Design und anderen führenden Design- und Innovationsfirmen, heute als Mitgründer der „Business Romantic Society“ Berater von Unternehmen auf der ganzen Welt.
Tim war jahrelang Mitglied des Values Council des Weltwirtschaftsforums, ist TED-Speaker sowie Mitglied des Aufsichtsrates der Strategie- und Innovationsberatungsfirma Jump Associates. Er fordert in seinen Veröffentlichungen und Vorträgen eine romantischere Wirtschaft und behauptet, dass angesichts von wachsenden Maximierungs- und Optimierungszwängen Kreativität sowie emotionale und soziale Intelligenz zu überlebenswichtigen Qualitäten werden.
»Wir leben in einem Zeitalter, in dem Reaktion Aktion ersetzt hat. Wir haben keine Zeit mehr, proaktiv zu planen, langfristige Strategien zu entwickeln und umzusetzen«, sagt er in unserem Gespräch. Umso dringlicher werde es, dass wir uns unserer Werte bewusst sind und Haltung annehmen. »Wie ein Fels in der Brandung des digitalen Tsunami können wir somit eine Vision oder zumindest einen bestimmten Ethos verkörpern und vorleben, der uns hilft, auch angesichts der massiven Datenflut und unter dem Druck von Effizienzzwängen und Quasi-Echtzeit-Informationen Entscheidungen zu treffen und zu vertreten.«
Puh, kein leichter Tobak. Aber schlau, denn jetzt kommt er auf den Punkt: Für eine solche Haltung sei es eben nötig, nicht ständig nur zu reagieren, sondern zu reflektieren, also alleine und analog losgelöst zu denken. »Dabei helfen kurze digitale Auszeiten oder auch längere digitale Sabbaticals. Ab und zu auf Pausen zu bestehen ist kein Luxus mehr, wird immer mehr karriereentscheidend und, ja, überlebenswichtig.
Wie sagt der amerikanische Autor Dov Seidman so schön:
»Wenn wir die Pausentaste einer Maschine drücken, hört sie auf. Wenn wir die Pausentaste beim Menschen drücken, fängt er an.«
Soweit die Theorie. Jetzt aber zur Praxis: Wie trainiere ich denn nun den Muskel des Analogen?
Für Tim ist der Kernbegriff hier Intimität. »Intimität – nicht reine Vernetzung oder Kommunikation – ist das Gegenteil von Einsamkeit. Wer echte menschliche Beziehungen aufnehmen und unterhalten will, der muss sich auf Intimität einlassen und diese erzeugen.«
Für ihn klappt das zum Beispiel besonders gut beim Essen. »Für jemanden zu kochen ist ein intimer Akt – gemeinsam zu Abend oder Mittag zu essen, ob im Familienkreis, mit Freunden oder Kollegen. Dabei ist es wichtig, das Handy aus der Hand zu legen und sich bewusst auf den anderen einzulassen.«
Tim – das habe ich mehrfach selbst erlebt – ist ein begnadeter Menschen-Zusammenbringer, ein warmherziger Gastgeber selbst unter widrigsten Umständen. Landet er in einer fremden Stadt, weil er dort einen Vortrag hält – auch nach einem Transatlantik-Flug und mit vermutlich schwerem Jetlag –, käme es ihm nie in den Sinn, sich im Hotelzimmer einzuschließen und zu schlafen oder Filme zu schauen. Vielmehr hat Leberecht immer schon vor dem Flug auf Facebook oder per E-Mail Freunde und Bekannte angeschrieben, die er in den meisten Metropolen der Welt zu haben scheint.
Und dann bringt er diese Menschen, die sich gegenseitig meist gar nicht kennen, im kleinen, lieber aber großen Kreis zum Essen zusammen. Manchmal geht es dann nur um Fußball und Kinder, am liebsten setzt Tim aber in bester Salon-Tradition ein ernstes, gern philosophisches Thema. Das ist, gerade für zurückhaltende deutsche Teilnehmer wie mich, gewöhnungsbedürftig, manchmal sogar ein bisschen peinlich – aber es schafft eben genau jene Intimität, die Leberecht so wichtig ist. Tatsächlich bleiben die Handys in diesen Runden in der Tasche. Und nach so einem Abend hat man plötzlich eine Handvoll neuer Freunde, über die man erstaunlich viel weiß, denen man sich erstaunlich nahe fühlt.
Tim erzählt, dass es in den USA mittlerweile populäre Abendessen-Reihen mit Titeln wie Let’s Have Dinner and Talk about Death gibt, mit ganz unironisch intimen Gesprächen über den Tod. Oder Dinner Partys, bei denen Teilnehmer schmerzhafte Trennungen diskutieren. Er selber hat mit dem Weltwirtschaftsforum eine Gesprächsreihe namens 15 Toasts entwickelt, bei der jeweils 15 Teilnehmer gemeinsam auf ein Thema anstoßen und kleine, persönliche Reden halten – all das bei bewusstem Verzicht auf Selfies und soziale Medien.
»Wir müssen mehr solcher safe spaces schaffen, um Intimität zu gewährleisten«, sagt Leberecht: »Wir müssen wieder lernen, präsent zu sein und die unvermeidliche Langeweile zu ertragen, die sich einstellt, wenn man eine längere Zeit mit einem anderen Menschen ohne jegliche Ablenkung verbringt. Was lange währt –, nachhaltige Qualität, vor allem auch in Beziehungen – ist eben schnell auch mal langweilig.«
Diese Idee der langen Weile als Zufluchtsort im Auge des digitalen Hurrikans steht ja im genauen Gegensatz zur permanenten Beschleunigung des Neuen Arbeitens, aber sie hat sich zuletzt auch in Trends wie Slow Food, Slow Entrepreneurship oder Slow Marketing niedergeschlagen. Carl Honoré, den wir noch aus meinem letzten Gastbeitrag kennen, würde sich gut mit Tim Leberecht verstehen, der proklamiert: »Langsamkeit wird in einer Zeit der totalen Beschleunigung zum Luxus, und das Gute dabei ist: Wir alle können uns diesen Luxus leisten, wenn wir uns nur trauen.«
Eine seiner Bekannten führt in New York ein soziales Experiment durch, das sie die „I Am Here Days“ nennt. Es treffen sich zehn Freunde jeweils an einem Sonntag im Monat, um einen ganzen Tag lang ohne jegliche digitale Ablenkung einen Stadtteil zu erkunden. »Die Annahme ist, dass wir Intimität schaffen, echte, tiefe Beziehungen, wenn wir acht Stunden nonstop miteinander verbringen, anstatt uns achtmal im Monat für jeweils eine Stunde zu sehen.« Soziologen nennen das Thick Presence – dichte Präsenz – anstelle von hektischer, fragmentierter und effizienz-getriebener – also dünner – Interaktion.
Neuem Arbeiten oder Arbeiten 4.0 steht Leberecht denn auch skeptisch gegenüber, hält die meisten unter diesem Schlagwort betriebenen Initiativen »für Phantomschmerzen alter, kollabierender Systeme. Die Firmen haben lediglich damit begonnen, eine digitale Maske draufzusetzen, zu digitalisieren, um zu quantifizieren und optimieren.« Letztlich sei das ein Digitaler Taylorismus, der den Wissensarbeiter nun mit Leib und Seele kolonialisiere und seine Ressourcen maximal auswerte.
»Das Gerede von Purpose oder vom sinnhaften Unternehmen dient dabei der intrinsischen Motivation, ist aber oft nur ein weiterer Hebel, um die unbedingte emotionale Loyalität und Aufopferung an das Unternehmen zu gewährleisten«, sagt er: »Ich habe in San Francisco intelligente Menschen getroffen, die, nachdem sie von Facebook angeheuert wurden, wie indoktriniert von der Mission des Unternehmens schwärmen, die Welt zu einem besseren, weil vernetzteren Ort zu machen.«
Dieser Text ist ein überarbeiteter Auszug aus „Digitale Erschöpfung“, dem aktuellen Buch von Markus Albers. Zuvor hat er bereits in „Morgen komm ich später rein“ und „Meconomy“ über die Zukunft der Arbeit geschrieben.
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