Wahrer Reichtum
Darum sind Fülle und Überfluss gut für die Welt
Geschrieben wurde dieser Artikel von Dr. Alexandra Hildebrandt
Grenzenlose Verschwendung
Alles Gute im Leben hat mit Verschwendung, Fülle und Möglichkeiten zu tun. Was würde uns alles verloren gehen, wenn wir darauf verzichten? Es liegt im Wesen der Natur, dass sie immer nach mehr strebt.
Das wird in der Nachhaltigkeitsdebatte, in der es häufig um Verzicht geht, leider oft vernachlässigt – etwa wenn vermittelt wird, weniger „schlecht” zu sein. Doch wo bleibt das Gute? Es wird Zeit, das Wachstum zu feiern und in größeren Dimensionen zu denken, was nur gelingt, wenn wir auch den Überfluss in uns selbst zulassen.
Viel ist in den vergangenen Jahren über die Cradle to Cradle-Prinzipien des Chemikers Michael Braungart geschrieben worden. „Keine Grenzen. Stattdessen Überfluss: vielfältig, sicher, gesund, sauber, erfreulich”, heißt es in seinem Buch „Intelligente Verschwendung”, das uns auffordert, das Konzept des Abfalls abzuschaffen und zeigt, dass keine Ressource als entbehrlich gelten sollte.
Eine Cradle to Cradle-Welt würde es uns ermöglichen, Fülle und Überfluss zu genießen sowie Vielfalt zu fördern, ohne dass die Welt dabei verarmt. Dafür verwendet er das Bild eines Kirschbaums:
„Stellen Sie sich einfach einen Kirschbaum vor. In jedem Frühjahr bringt er Tausende von Blüten hervor, von denen viele irgendwann zur Erde fallen. Die Blüten lösen sich dann auf und werden zu Nährstoffen für den Boden und tragen zur Gesamtgesundheit des lokalen Ökosystems bei. Der Überfluss des Baums ist also nicht Verschwendung, sondern nützlich, sicher und schön.”
Der Baum produziert ununterbrochen positive Emissionen. Weil er wachsen will, gibt er nicht nur Sauerstoff ab – er will auch größer werden, will mehr CO2 verbrauchen und Sauerstoff abgeben. Mehr und mehr.
Der Kirschbaum ist auch für die Autorin Natalie Knapp, für die Leben Teilen und Mitteilen von Lebendigkeit nach innen und außen bedeutet, ein Symbol der Hoffnung und intelligenten Verschwendung. Das ist das Erfolgsgeheimnis der Natur und kluger Unternehmer.
Sie setzen wie der österreichische Chocolatier Josef Zotter auf natürliches Wachstum, das sich nicht aufhalten lässt. Vielleicht könnte es sogar aufgehalten werden, doch warum sollte man das tun? Natürliches Wachstum künstlich zu verhindern – auf so eine Idee würde Zotter nicht kommen:
„Dafür hätte ich nämlich nicht Unternehmer werden müssen, dass ich absichtlich kein Geschäft mache. Wenn man ein Produkt ohne Kompromisse und ohne Abstriche bei der Qualität erzeugt und sich dabei ständig weiterentwickelt, dann ist es doch ziemlich normal, dass die Nachfrage danach steigt.”
Er ist sich allerdings auch bewusst, dass der Tag kommen wird, an dem der Prozess abbricht: „Wie im Leben. Das ist der Zyklus. Wir werden geboren, aufgezogen, dann sind wir erwachsen, bringen eine Zeit lang unsere Topleistung, dann lassen unsere Kräfte nach. Und in der Zwischenzeit wächst wieder eine neue Generation heran. Das ist der Kreislauf der Natur.”
Daraus ist noch etwas anderes ablesbar – nämlich die Erkenntnis, dass auch unser Denken wieder in einen Kreislauf gebracht werden muss, wenn wir die Welt verstehen und zum Besseren verändern wollen. Doch wie kann das gelingen in einer Zeit, in der äußerlich alles immer vernetzter wird, aber innerlich das Geradlinige noch dominiert und das Bedürfnis nach Abkürzungen?
Gedanken im Überfluss
Es macht Sinn, sich vor diesem Hintergrund auch von Philosophen und Werbern inspirieren zu lassen, die die Tiefe an der Oberfläche zu suchen und umgekehrt. Gerade sie verstehen es auf nachhaltige Weise, auch „Erlesenes” in Beziehung zu setzen, um die Welt wieder „ganz” zu sehen.
So findet sich im aktuellen Buch von Natalie Knapp „Der unendliche Augenblick” auch ein Cradle to Cradle-Verweis: Beim australischen Biologen Bill Mollison wurde Verwelktes oder Abgestorbenes als Nährstoff wiederverwertet. Auch hier gab es keine Abfälle. „Die verschiedenen Lebenszyklen der Pflanzen, Tiere und Mikroorganismen griffen ineinander und unterstützten sich gegenseitig.”
In der Natur sollte Abfallprodukten wie „der Scheiße” anders begegnet werden. Das schrieb der Philosoph Peter Sloterdijk schon 1983 in seiner „Kritik der zynischen Vernunft”, in dem er darauf verwies, die Brauchbarkeit des Unbrauchbaren und die Produktivität des Unproduktiven neu zu durchdenken.
Inzwischen bieten Ökoversender wie die memo AG sogar Toilettenpapier- und Handtuchspender aus Recyclingkunststoff, Cradle-to-Cradle und CO2-neutral produziert, an (vgl. memolife, Ideen und Produkte zum nachhaltigen Leben).
Zu finden ist hier aber auch der weltweit der erste Stift, der mit dem Cradle-to-Cradle-Zertifikat in Silber ausgezeichnet wurde: der Stabilo Filzstift “GREENpoint” aus 96 % Recyclingmaterial sowie Sichthüllen aus Recycling-PP, ebenfalls Cradle to Cradle. Auch wenn eine „ganze” Cradle to Cradle-Welt nicht möglich ist, so ist ein Teil fürs Ganze schon viel, wenn auch nicht genug.
Was wir dringend brauchen, ist vor allem ein Überfluss des Denkens und Räume, in denen nichts davon verlorengeht. „Zeitwohlstand” nennt das Karen Heumann, Sprecherin des Vorstands und Partnerin der Thjnk AG. Damit verbunden ist für sie das Gefühl, genug Zeit zu haben, um kreativ sein zu können.
Die „Business-Romantikerin” (im Sinne von Tim Leberecht) ist davon überzeugt, dass das gelingen kann. Schon als Kind war ihr Lieblingslied: „Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten”.
Wer nachhaltig auf die Dinge blickt, empfindet Denken nicht als Zeitverschwendung – im Gegenteil. Auch wenn nicht jede Idee umsetzbar ist, sagt Claudia Silber, Leiterin der Kommunikation beim Ökoversender memo AG, so seien aber alle Führungskräfte und Mitarbeiter „sinnvollen Ideen und Maßnahmen gegenüber sehr aufgeschlossen”.
Beispielsweise kann sich jeder Mitarbeiter über die “KommBox” einbringen: Das ist eine Art “Briefkasten”, der in der Cafeteria des Unternehmens hängt und in den jeder „Anregungen, Ideen, aber auch Kritik einwerfen kann. Selbstverständlich ist das auch in der direkten Ansprache bei den jeweiligen Verantwortlichen oder im Rahmen der regelmäßigen Personalversammlungen möglich.”
Ja, Ideen sollen intelligent verschwendet werden, weil sie immer irgendwann und irgendwo aufgehen. Deshalb spricht Claudia Silber auch von „nachhaltigen Maßnahmen”, die eine „Investition in die Zukunft” sind. Vieles braucht Zeit, und einiges ist mit finanziellem oder personellem Aufwand verbunden, „aber unsere Erfahrung zeigt, dass sich das lohnt”, so die Kommunikationsexpertin.
Warum wir uns verschwenden sollten
Auch wenn der Begriff Investition mit Betriebswirtschaft in Verbindung gebracht wird, so trifft er dennoch den Kern der intelligenten Verschwendung. Lateinisch heißt „investire” „einkleiden”, was mit Erwärmung und Schutz assoziiert wird, also der äußeren Hülle zwischen uns und der Welt.
Es ist sicher kein Zufall, dass auch im Freundschaftskontext von Investition gesprochen wird. Damit ist nichts Berechnendes gemeint, sondern auch der Kreislaufgedanke des Cradle to Cradle-Prinzips:
„Irgendwie ist es doch so, dass man zurückbekommt, was man investiert”, sagt die Moderatorin Bettina Böttinger im Buch „Freundschaft” von Katja Kraus. Darin beschreibt sie auch, wie „übervoll” ihr Herz ist, manchmal auch „gefüllt von Wärme für solche, die gar nichts davon ahnen.”
Dazu gehört auch der Arzt, der ihre Mutter in den letzten Jahren ihrer Krankheit begleitete. Sie trägt ihn viel intensiver in sich, als er weiß. Mit der Liebe, fügt sie am Ende hinzu, „sollte man doch ohnehin verschwenderisch sein.”
Das Thema zieht sich wie ein roter Faden durch die Interviews: So beschreibt adidas-Chef Herbert Hainer plötzlich „mit unerwartet verschwenderischen Worten” seine drei besten Freunde. Auch für Manfred Bissinger und Roger Willemsen sind Freundschaften etwas „Verschwenderisches”.
Wahrer Reichtum bedeutet, sich an andere zu verschwenden und nicht zu versuchen, mehr zu sein, als man ist.
Literatur:
Michael Braungart und William McDonough: Intelligente Verschwendung. Auf dem Weg in eine neue Überflussgesellschaft. München: oekom 2013.
Natalie Knapp: Der unendliche Augenblick. Warum Zeiten der Unsicherheit so wertvoll sind. Rowohlt: Hamburg 2015.
Katja Kraus: Freundschaft. Geschichten von Nähe und Distanz. S. Fischer: Frankfurt a.M. 2015.
Josef Zotter: Kopfstand mit frischen Fischen. Mein Leben – meine Überzeugungen. Riegersburg 2015.
Über die Autorin
Dr. Alexandra Hildebrandt
Dr. Alexandra Hildebrandt ist Nachhaltigkeitsexpertin und Wirtschaftspsychologin. Sie studierte Literaturwissenschaft, Psychologie und Buchwissenschaft. Anschließend war sie viele Jahre in oberen Führungspositionen der Wirtschaft tätig. Bis 2009 arbeitete sie als Leiterin Gesellschaftspolitik bei der KarstadtQuelle AG (Arcandor). Beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) war sie von 2010 bis 2013 Mitglied der DFB-Kommission Nachhaltigkeit. Den Deutschen Industrie- und Handelskammertag unterstützte sie bei der Konzeption und Durchführung des Zertifikatslehrgangs „CSR-Manager (IHK)“. Alexandra Hildebrandt ist Sachbuchautorin, Hochschuldozentin, Herausgeberin und Mitinitiatorin der Initiativewww.gesichter-der-nachhaltigkeit.de. Sie ist Bloggerin bei der Huffington Post und Co-Publisherin der Zeitschrift „REVUE. Magazine for the Next Society”.
Dieser Text erschien zunächst in The Changer.