Warum die Wirtschaft Business-Romantiker braucht
Sehnsucht nach einem anderen Wirtschaftsleben
von Alexandra Hildebrandt
Ein Fanfarenstoß für alle, „denen hervorragende Leistungen und Effizienz im Geschäftsleben nicht genügen”. Das ist das Buch von Tim Leberecht: „Business-Romantiker. Von der Sehnsucht nach einem anderen Wirtschaftsleben” (Droemer Verlag, 2015). Es widmet sich der Frage, an welchen Stellen wir romantische Erfahrungen von Reibung, Konflikt, Mysterium und Vieldeutigkeit kultivieren, und wie wir ein Stück „Lebenskunst” zurück in unseren Arbeitsalltag bringen können.
Für den Autor ist es an der Zeit, dass wir uns mit Leib und Seele in unsere Arbeit einbringen: „Verschreiben Sie sich dem Dienst an der Sache. Verschreiben Sie sich einem Leben in dem Raum zwischen Autonomie und Hingabe. Vor allem aber: Verschreiben Sie sich der Arbeit. Zwei Minuten, vier Minuten, acht, sechzehn, zweiunddreißig. Ein Leben lang.”
Weil wir die meiste Zeit unseres Lebens mit Arbeit verbringen, sollte dafür gesorgt werden, dass Führungsverantwortlichen und Unternehmen bewusst ist, warum sie das tun, was sie tun: „Wichtig ist die Erkenntnis, wieso machen wir es? Wieso haben wir eine Existenzberechtigung?”
Als Marketingmanager ist Wirtschaft für Tim Leberecht, der auch Mitglied im Value Council des Weltwirtschaftsforums ist, eines der größten Abenteuer menschlichen Handelns. Wenn er sich als unverbesserlichen Business-Romantiker bezeichnet, so heißt das nicht, dass er ein Tagträumer oder Idealist ist.
Wie alle, die sich als Business-Romantiker begreifen, ist auch er nicht immer mit der Gegenwart einverstanden und sieht die Zukunft oft klarer. Das gelingt ihm deshalb, weil ihn jene Spannungsfelder, die das eigenen Blickfeld wesentlich erweitern, schon immer angezogen haben: Geld und Geist, Sinngehalt, Kommerz und Kultur, Transaktion und Transzendenz.
Leberecht ist gerade deshalb erfolgreich, weil er auch Lebenskünstler ist, der die ursprüngliche romantische Bewegung, die gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf die industrielle Revolution und die Aufklärung entstand, „verarbeitet” und alle Facetten seines Wesens einsetzt: nie alle auf einmal, immer nur eine Seite je nach Situation und Bedarf.
Mit dem Thema Transparenz tut er sich deshalb zuweilen schwer: „Wenn man jedoch bei Tageslicht auf eine durchsichtige Glaswand blickt, sieht man ein Spiegelbild seiner selbst.” Eine Welt der Innovation braucht auch „die schmutzige Vitalität der Undurchsichtigkeit”. Das, was auch verschlossen werden kann, was wir für uns behalten, die Schatten, die wir werfen, bringen uns erst dazu, mehr zu wollen.
Multiple Identitäten durch Rollenwechsel
Eine Maske auch am Arbeitsplatz zu tragen, eine soziale Rolle zu spielen ohne den eigenen inneren Kern zu verlieren, gehört für Leberecht zum romantischen Da-Sein. So zu tun, als wäre man jemand anderes, ist für ihn der erste Schritt dazu, jemand anderes zu werden. In Wahrheit strecken wir in solchen Momenten unsere Flügel aus und „verschaffen uns Raum für weiter ausgreifende Versionen unseres Ichs”.
Der Business-Romantiker wechselt kontinuierlich zwischen seinen Rollen und verwischt dabei die Trennlinien zwischen Strategie und Taktik.
Er ist der …
_ Wieso-Mensch, die inspirierende Stimme, die eine Vision formt, „die Integritätsmaßstäbe etabliert und aufrechterhält und alle an ihre gemeinsamen Werte und an die Mission, die sie vereint, erinnern kann”
_ Was-Mensch, Schöpfer und Stratege, der die Mission in die Realität übersetzen kann
_ Wie-Mensch, der Umsetzer, „der eine Besessenheit für Details besitzt und sich der Sorgfalt in der Durchführung verschreibt”
Der Business-Romantiker probiert multiple Identitäten aus, trägt verschiedene „Hüte” (oder Masken) und tritt immer als „ein anderer Mensch” auf.
Leberecht liebt die Mehrdeutigkeit in allen Lebensbereichen. Sie findet sich auch in seiner Biographie: Er studierte sowohl Geisteswissenschaften als auch Betriebswirtschaft, las als Student die Werke deutscher Philosophen und später als Geschäftsmann das Wall Street Journal: „Ich wollte immer Künstler werden – und wurde am Ende doch ein ‚Marketing-Typ'”.
In der Romantik waren die Künstler auf der Suche nach einer Begegnung mit dem Erhabenen, das sich nicht erklären, sondern nur bestaunen lässt, wie es auch der Bergsteiger Reinhold Messner einmal formulierte. In seinem Buch „Nie zurück”(1997) bekannte er sich selbst dazu, ein romantischer Mensch zu sein:
„Das ‘Nie zurück’ ist mein ewiger Konflikt. Das Gestern füllt mich nicht aus, und die Neugierde wächst dorthin, wo ich noch nicht war. Obwohl ich Angst habe vor dem nächsten Grenzgang, komme ich nicht davon los. Als gäbe es kein Zurück mehr.”
Der romantische Geist ist also keineswegs eine historische Angelegenheit, sondern noch immer eine höchst aktuelle. Was die Romantiker in der Welt suchten, war eine Sehnsucht zu sich selbst und ein “Weg nach innen”. Novalis fasst diese Bedeutung in seinem 16. Blütenstaubfragment zusammen und umreißt einen Teil des romantischen Programms:
“Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht. – Nach innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft.”
Warum braucht Wirtschaft Romantik?
Es muss neben dem Erklärbaren auch Raum für das Unerklärliche geben und für das Implizite neben dem Expliziten, schreibt Leberecht. Denn Führungskräfte brauchen diese Weite im Denken, um die „unvermeidliche Unordnung des Wirtschaftslebens begreifen zu können”.
Ein verwandter Geist ist für ihn der 2005 verstorbene Managementtheoretiker Peter Drucker, der das Konzept des „purpose-driven business” etabliert hat. Demnach brauchen Unternehmen einen Daseinszweck, ein höheres Ziel, um im Wettbewerb bestehen zu können.
Heute wird von der gesellschaftliche Akzeptanz von Unternehmen gesprochen. Wo sie fehlt, manifestiert sich dies in einem schleichenden Verlust der unternehmerischen Kooperationsfähigkeit, infolgedessen die unternehmerische Wertschöpfung erschwert wird (Wirtschaftslexikon Gabler). Sie kann damit auch als die Basis der unternehmerischen Wertschöpfung bezeichnet werden. Ihr Management ist Bestandteil von Corporate Social Responsibility (CSR).
Als Leberecht Betriebswirtschaft studierte, hatte es für seine Seele immer etwas Tröstendes, Drucker zu lesen, weil seine Bücher „menschlich und warm” klangen. Drucker prägte den Begriff vom sinngeleiteten Business, widmete sich der Bedeutung von Werten für die Wirtschaft an und verband Management und Geisteswissenschaften miteinander.
Für den Business-Romantiker war er ein Vorbote der Möglichkeiten und der Verantwortung, „die ein modernes Großunternehmen dafür hat, Gemeinschaften aufzubauen und Sinn zu schaffen”.
Tim Leberechts Buch erbringt immer wieder den Nachweis, dass mehr als sechzig Jahre nach Erscheinen von Viktor Frankls wichtigem Werk „Der Mensch auf der Suche nach Sinn” der größte gemeinsame Nenner einer ganzen Generation heute „Sinn” ist. Und er fragt, ob ein sinnorientiertes Leben romantisch sein kann, ja Romantik vielleicht sogar eine Voraussetzung für Sinn ist. Sein Fazit: Wir müssen alternative Wege zur Sinnfindung schaffen.
Das ist insofern schwierig, als in der Businesswelt häufig kein Platz ist für Unerklärliches, denn das herrschende Mantra lautet: „Man kann nur managen, was man misst.”
Für Business-Romantiker sind die Fachkenntnisse der Geisteswissenschaften am wichtigsten – „und zugleich die nutzlosesten”. Für Leberecht liegt gerade darin ihre Rettung, weil sie sich von Effizienz- und Optimierungsmodellen nicht ruinieren zu lassen. Sie nehmen sich Zeit – auch für Muße.
Die Geschäfte führen sie in ihrer eigenen Geschwindigkeit. Großzügigkeit, mehr zu geben als zu nehmen, gehört zu ihrer „Standardstrategie”: „Unsere Handlungen sind romantisch, wenn sie keine Gegenleistung erwarten.”
Das Leben ist für sie kurz, um es mit „Wischiwaschi-Typen” zu verschwenden. Neutralität und Unparteilichkeit sind das Ende der Romantik. Die größte Bedrohung für Business-Romantiker ist nach Leberecht allerdings der Zynismus. Während der Romantiker Gelegenheiten schätzt, dem Team eine gemeinsame Identität zu geben und sie zu stärken, graust es dem Zyniker beispielsweise vor dem Mitarbeitertreffen am Montagmorgen, „das er als überflüssiges Forum zur Förderung eines falschen Gemeinschaftsgefühls ansieht”.
Das Beispiel ist nicht Bestandteil der Publikation von Tim Leberecht, aber es passt an diese Stelle: So schreibt Katja Kraus in ihrem Buch „Freundschaft. Geschichten von Nähe und Distanz” im Kapitel über den Werber Jean-Remy von Matt, dessen Führung sie mit Begriffen wie „gepflegte Distanz” und „Aura und Brillanz” verbindet:
„Seit Jahren verschickt (!) er an jedem Montagmorgen eine Botschaft an seine Mitarbeiter. Manchmal tüftelt er das ganze Wochenende an den richtigen Worten. Und oftmals findet er seine motivierende Depesche dann richtig gut.” Und weiter: „Integrative Kaffeeautomatenbegegnungen und gruppendynamische Arbeitsabläufe versucht er zu vermeiden, wo es geht.” Ein Zyniker misstraut jeder Erfahrung, die ihm unter die Haut gehen soll, schreibt Leberecht: „Der Romantiker bekommt zumindest eine Gänsehaut.”
Die Regeln der Business-Romantiker (nach Tim Leberecht)
_ Finde das Große im Kleinen
_ Sei ein Fremder
_ Gib mehr, als du nimmst
_ Leide (ein bisschen)
_ Tu so, als ob!
_ Hüte das Geheimnis
_ Trenne dich
_ Überquere den Ozean
_ Nimm den langen Weg nach Hause
_ Stehe alleine, am Rande, ganz still
Auch wenn diese Regeln und die Suche nach Romantik sicher keine „Salbe für all unsere Wunden” sind, so stellen sie jedoch „einen verlockenden Bewältigungsmechanismus” dar.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Huffington Post.