Warum die Zukunft den Verlierern gehört
Tim spricht "Klartext" auf XING.
von Tim Leberecht
- Seit der Coronakrise ist Verletzlichkeit mehr als nur ein Management-Buzzword
- Wir müssen Gewinnmaximierung, aber auch das Gewinnen an sich infrage stellen
- Verlieren(können) wird in der Zukunft zur Schlüsselkompetenz werden
Die Coronakrise rief in uns allen den sogenannten Overview-Effekt hervor – der wurde bei Astronauten festgestellt, die beim Blick auf den Blauen Planeten aus dem All plötzlich ein zutiefst persönliches Gefühl der ganzheitlichen Verantwortung empfanden. Gleichzeitig hat die Pandemie wie ein Mikroskop die Risse in unserer Gesellschaft noch sichtbarer gemacht: Sie hat uns einerseits verbunden in der Einsicht, wie zerbrechlich die Ökologie unserer globalisierten Lebenswelt tatsächlich ist, und andererseits soziale Ungerechtigkeiten verschärft.
Die exponentielle Disruption, von der uns das Silicon Valley vorgeschwärmt hat, sie kam in Form einer Viruswelle und hat nicht nur einstige Disruptoren wie Airbnb oder Uber überschwemmt, sondern uns alle. Nach dem Ende des Lockdowns spurteten wir zwar hierzulande zurück in die „Normalität“, und doch bleibt das ungute Gefühl, dass es so nicht weitergehen kann. „Ich schäme mich für mein Leben vor Corona“, schrieb jemand auf Twitter. Und der südafrikanische Zukunftsforscher Anton Musgrave sagt: „Wenn die Welt jetzt härter werden sollte statt weicher, dann sind wir alle verloren.“
Wenn es nur noch ums Gewinnen geht, setzen wir alles aufs Spiel
Weich ist das Stichwort. Wer die Grundfesten des Systems neu gestalten will, der muss über Gewinnmaximierung hinaus das Gewinnen selber infrage stellen – unsere bisherige Erfolgsformel.
Gründe dafür gibt es genug: Laut Edelman Trust Barometer meint die Hälfte der Deutschen, dass der Kapitalismus in seiner jetzigen Form mehr Schaden anrichtet als Wert schafft. Nur noch jeder achte Deutsche glaubt, dass er von einer wachsenden Wirtschaft profitiert. Eine 2019 erschienene Studie der Organisation More in Common weist darüber hinaus auf ein „unsichtbares Drittel“ aus Enttäuschten hin, die nicht mehr aktiv am politischen Prozess teilnehmen und immer einsamer und isolierter sind. Der innere Schaden ist dabei beträchtlich. Für Deutschland schätzt die Weltgesundheitsorganisation die Zahl der Menschen mit Depressionen auf 4,1 Millionen. 4,6 Millionen Menschen leben mit Angststörungen. 86 Prozent der Deutschen sagen, sie leiden unter Stress. Und all diese Zahlen beziehen sich auf die Zeit vor Corona!
Angesichts von Klimawandel, Gesundheits- und sozialer Krise wird immer klarer, was wir zu verlieren drohen, wenn Gewinnen um jeden Preis, das Gewinnen um des Gewinnens willen, die einzige Option ist: alles.
Die kombinierte Krise hat uns vor Augen geführt, dass der Wunsch, ständig zu den Gewinnern zu zählen, einfach nicht mehr haltbar ist. Sie hat uns an unsere Verletzlichkeit erinnert und gleichzeitig die Geschichte vom sozialen Fortschritt, rationalen Management und von einer leistungsgerechten Gesellschaft infrage gestellt, die wir uns so gern erzählen. Die weltweiten Proteste gegen strukturellen Rassismus haben zudem unser Bewusstsein dafür geschärft, dass unser Erfolg ein Privileg ist und unsere Erfolgsgeschichte immer auch die Verlustgeschichte eines anderen.
Zu lange schon haben wir in einer Diktatur der Gewinner gelebt, in der das Dogma des Gewinnens keine Alternativen kennt und der Sieg zu viele Väter. Die einspurige Machomanagementkultur der unbedingten Stärke, der klaren Antworten, der unmittelbaren Lösungen, des schnellen, entscheidenden Handelns – sie ist obsolet in einer Zeit, die uns mit komplexen Zusammenhängen konfrontiert und in der jeder Sachverhalt immer mehrere, oft auch widersprüchliche Bedeutungen hat.
Wie es anders gehen kann, lebt die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern vor: „Ich rebelliere gegen die Idee, dass Politik voller Ego sein muss und man vor allem darauf aus sein sollte, den anderen empfindlich zu treffen. Man kann stark sein und gütig.“ Ein weiteres Beispiel ist Ada Colau, die Bürgermeisterin von Barcelona, die mit Stolz von sich behauptet, dass sie nicht immer Lösungen parat hat. Oder Eva Carlsson, CEO des schwedischen Outdoor-Labels Houdini, die während der Coronakrise voller Selbstzweifel in einen offenen Dialog mit ihren Kunden darüber trat, ob sie nicht lieber alle ihre Marketingkanäle schließen sollte.
Nichtwissen, Nachdenken und Innehalten sowie eine Toleranz für Mehrdeutigkeit – dies sind die Qualitäten von Führungskräften, die ihren Aufgaben mit Empathie und Demut und auch ein wenig Melancholie begegnen, mit dem Wissen um die Flüchtigkeit allen Lebens. Sie begreifen Gewinnen als eine temporäre Identität, das Verlieren aber als Grundbedingung unserer Existenz. Denn in der Niederlage zeigen wir nicht nur unseren wahren Charakter – das Verlieren macht uns menschlich, macht uns zu uns.
Wer sich für eine menschlichere Wirtschaft interessiert, muss sich fürs Verlieren interessieren
Verlieren ist allerdings nicht gleichzusetzen mit Scheitern. Viele Unternehmen versuchten sich ja zuletzt am „Fail fast, fail forward“, das ihre Manager von einem ihrer zahlreichen Silicon-Valley-Trips mitgebracht hatten. In unseren Unternehmen, seien wir ehrlich, ist Verlieren aber immer noch tabu. Da können Firmen noch so viele Fuck-up-Nights hosten: Scheitern ist nur dann okay, wenn es wieder zum Gewinnen führt. Scheitern ist dramatisch. Man bemitleidet uns und applaudiert uns, wenn wir wieder aufstehen und „aus der Niederlage lernen“. Verlieren aber ist wie Sand, der uns zwischen den Fingern zerrinnt – ein schleichender, zermürbender Verlust.
Eine Kultur des Scheiterns allein reicht also nicht. Der zivilisatorische Grad einer Gesellschaft lässt sich vielmehr daran erkennen, wie sie mit ihren Verlierern umgeht. Nur eine Gesellschaft, in der man verlieren kann, ohne Verlierer, ohne Loser zu sein, ist eine menschliche Gesellschaft.
Transformation tritt ein, wenn wir die Kontrolle verlieren
Es gibt einen weiteren, eher praktischen Grund, warum das Verlierenkönnen zur Schlüsselkompetenz wird. Der hybride Arbeitsplatz der Zukunft wird von uns fordern, dass wir vermehrt nicht nur zwischen realer und virtueller Welt wandeln, sondern zwischen verschiedenen Identitäten. Wir werden in immer flacheren und dezentraleren Hierarchien immer mehr an Autorität verlieren. Wir werden die Kontinuität und Stabilität fester, langfristiger Anstellungen verlieren. Wir werden nicht nur immer mehr neue Projekte starten, sondern immer öfter auch alte zu Grabe tragen. Wir werden schnell neue Beziehungen eingehen und ebenso schnell wieder auflösen. Wir werden uns verabschieden vom Vertrauten und uns immer wieder neu erfinden müssen.
Resilienz und Agilität werden somit noch wichtiger werden, als sie es ohnehin schon sind. Aus Agilität wird dann immer mehr „emotionale Agilität“, um einen Begriff der Harvard-Sozialpsychologin Susan David zu verwenden: die Fähigkeit, die eigenen Emotionen, insbesondere „negative“ Emotionen wie Wut, Traurigkeit oder Angst, nicht zu regulieren, sondern zuzulassen, dass wir von ihnen auch einmal überwältigt werden.
Kurz vor dem Verlust liegt das Aufgeben: die Hingabe an stärkere Kräfte als die eigenen. Diese Hingabe ist der erste Schritt zu wirklicher Veränderung. „Echte Transformation tritt ein, sobald wir die Kontrolle aufgeben“, so hat das der Unternehmer und Autor Alan Seale einmal formuliert.
Am Ende dieser Transformation steht dann schließlich Fluidität: nicht mehr nur das Wandeln zwischen den Welten, sondern deren Integration im Sinne eines Bewusstseins, das Schwäche nicht gegen Stärke und Verlierer nicht gegen Gewinner ausspielt, sondern als ein nichtbinäres Kontinuum begreift, bei dem es nicht länger allein darum geht, uns produktiver zu machen, sondern gesünder, sinnerfüllter, lebendiger.
Erst dann sind wir in der Lage, uns vom Ego zum Kollektiv zu entwickeln, ganz im Sinne des eingangs erwähnten Overview-Effekts. Nur dann können wir gemeinsam die großen systemischen Fragen anpacken, an die uns die Coronakrise so eindringlich und hautnah erinnert hat. Nur dann erkennen wir den anderen in uns selbst – und dass wir letztlich alle Verlierer sind und sein können. Und nur dann werden wir zu einer menschlichen Gesellschaft der guten Verlierer.
Mehr von Tim Leberecht gibt es im September: Dann ist er zu Gast im NWXnow Videocast und spricht mit XING News Chefredakteurin Astrid Maier zum Thema „Neuordnung: Produktiv umgehen mit Verlust und Veränderung”.
Tim Leberecht (Jg. 1972) hat die Business Romantic Society mitgegründet, einen Think Tank für schönes Wirtschaften. Außerdem ist er Kurator des House of Beautiful Business, dessen jährliches Festival diesmal weltweit, sowohl virtuell als auch vor Ort stattfinden wird. Sein neues Buch „Gegen die Diktatur der Gewinner“ erscheint im August, ist aber bereits vorbestellbar.
Dieser Artikel erschien im Rahme der XING – Klartext Reihe.