Warum Intuition allein in die Irre führt
Tim ist zitiert in diesem Artikel zur Renaissance der "inneren Stimme" in der neuen Arbeitswelt.
von Alexandra Hildebrandt
Seit einiger Zeit wird im Kontext neuer Arbeits- und Lebenswelten verstärkt auf die innere Stimme als eine Form der Intelligenz verwiesen. Experten plädieren dafür, die Zahlen-, Daten-, Faktenebene zu verlassen und sich stattdessen einer Arbeitswelt zuzuwenden, in der Menschen das, was sie tun, gern und mit Leidenschaft machen. Das perfekte Unternehmen ist für den Business-und Managementexperten Tim Leberecht „ein Anti-Amazon und schafft Raum für Intuition, Kreativität und Mehrdeutigkeit“. Es erlaubt Mitarbeitern und Führungskräften, Entscheidungen auch „gegen besseres Datenwissen“ zu treffen – nur aus dem Bauch heraus. „Lassen Sie nicht zu, dass Ihre innere Stimme in den Stimmen anderer untergeht. Und was am wichtigsten ist: Haben Sie den Mut, Ihrem Herzen und Ihrem Bauchgefühl zu folgen“, sagte beispielsweise Steve Jobs in einem Doktorandenseminar an der Stanford University. Er setzte nicht auf systematische Analyse, sondern auf weichere Faktoren: „Man muss auf etwas vertrauen– auf seinen Bauch, das Schicksal, das Leben, Karma oder was auch immer. Dieser Ansatz hat mich nie im Stich gelassen und alles, was in meinem Leben wichtig war, bewirkt.“
DOCH REICHT DAS ALLEIN AUS? In der Wissenschaft wird für diese Vorgehensweise häufig der Begriff Intuition verwendet. Diese ist die Summe aus Reaktionsmustern, Erfahrungen und Erinnerungen. Für einen Augenblick sieht sie das Wesentliche und blendet alles andere aus. Ihre Entstehung im Gehirn verdankt sie drei Instanzen, die an unserer Entscheidungsfindung arbeiten: So ist die Hirnrinde mit dem Abwägen befasst, im Hippocampus ist das Erfahrungswissen gespeichert, und für die emotionale Bewertung der Lösung ist der Mandelkern zuständig.Intuition führt also zur Erkenntnis der Dinge, ohne dass man sich bewusst wird, wie genau sie erkannt werden. Doch eine Garantie, dass man damit immer richtig liegt, ist das nicht. Denn Intuition kann auch sehr emotionsgeladen und deshalb nach Ansicht des Psychologen Prof. Henning Plessner fehleranfällig sein. Wenn man als Experte in Gebiete eindringt, in denen man kein Fachmann ist, kann es geschehen, dass sich fachliche Unerfahrenheit, Selbstüberschätzung und Begeisterung negativ auswirken. Neuere Studien bestätigen, dass unsere Intuition nur in solchen Bereichen treffsicher ist, in denen wir über viel Erfahrung verfügen. Wenn es aber ums Unbekannte geht, sind wir oft hilflos, weil es uns an Wissen und Erfahrungen fehlt. Dadurch schwindet auch die Verlässlichkeit der Intuition als Mittel der Beurteilung.
JA, VIEL ZU VIELE MENSCHEN UND INSTITUTIONEN versuchen, den aktuellen Herausforderungen mit alten Ansätzen zu begegnen. Und natürlich sind Prognosesucht, Quantifizierungswut und Strukturen keine hinreichende Antwort, wenn es um echte Problemlösungen geht. Deswegen hat Intuition zweifellos ihre Berechtigung. Aber sie braucht als Ergänzung eben auch diese „altmodischen“ Stabilitätsfaktoren, die uns helfen, den Überblick zu behalten. Ohne inneren Maßstab wird das Probemlösen nicht klappen – „aber auch nicht ohne ein gesundes Misstrauen gegenüber jedem, der glaubt, ihn gefunden zu haben“ (Brand-Eins Chefredakteurin Gabriele Fischer). Es braucht heute also beides: die innere Stimme und einen äußeren Rahmen, in dem sie gehört wird.
Dieser Artikel erschien im Magazin FVW.