Laufen in der Leistungsgesellschaft
Auch heute gibt es viele Flaneure. Ihr „Territorium" ist beispielsweise das Welt Village, das Tim Leberecht in seinem Buch „Business-Romantiker. Von der Sehnsucht nach einem anderen Wirtschaftsleben" beschreibt.
von Alexandra Hildebrandt
„Rund um uns rücken die Kriege näher, eine gewaltige Völkerwanderung ist im Gange und manches gerät bereits aus dem Lot, was unsre schöne alte Welt ausgemacht hat. Härtere Zeiten stehen uns bevor, strengere, intolerantere. Und wir rennen und rennen, als gäbe es nichts Wichtigeres zu tun.” Matthias Politycki
Die Wahrheit liegt auf der Geraden
Laufen als ein Mittel zum Überleben steckt uns noch heute in den Knochen. Unsere Leistungsgesellschaft wird im Laufen auf den Punkt gebracht, lautet die Botschaft des klugen Buches von Matthias Politycki: „42,195. Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken” (2015).
Für den passionierten Marathonläufer und Autor gehören Laufen und Schreiben seit über vierzig Jahren zusammen. Warum? – Weil es ihm Selbstbewusstsein gibt. Aus Angst vor leerer Zeit. Weil ihm Nichtstun verdammt schwerfällt. Weil es seinem Leben Struktur und Sicherheit gibt.
Warum wir Flaneure und Marathonläufer brauchen
Das Buch gibt aber auch Auskunft über die Bewegung einer Gesellschaft, die von Flaneuren und Läufern gleichzeitig geprägt ist. „War dieser der Inbegriff der beginnenden Moderne, so ist der Läufer vielleicht der Inbegriff der Postmoderne”, sagt Matthias Politycki.
Es ist kein Zufall, dass der Begriff des Flaneurs heute wieder eine Renaissance erlebt. Ursprünglich bedeutet Flâneur Müßiggänger. Das Wort wurde im neunzehnten Jahrhundert zur Beschreibung eines eleganten Typs des Spaziergängers verwandt, der ziellos und ohne Eile durch die Pariser Passagen schlenderte, beobachtete und wartete.
Ein Experte des Aufschubs und der Verzögerung. Beim langsamen Gehen hat er die Muße (skolé, otium), seine Gedanken hin- und herschweifen und neue Ideen entstehen zu lassen.
Auch heute gibt es viele Flaneure. Ihr „Territorium” ist beispielsweise das Welt Village, das Tim Leberecht in seinem Buch „Business-Romantiker. Von der Sehnsucht nach einem anderen Wirtschaftsleben” beschreibt:
„Es ist voller Drehungen und Windungen, mysteriöser Sackgassen und eigenwilliger Halbstraßen und -avenues und zum ziellosen Herumziehen wie gemacht. Es ist zwar kompliziert, schnell irgendwohin zu gelangen, aber es ist leicht, Dinge zu entdecken.”
Laufen und Lesen
Das Buch von Matthias Politycki ist zugleich ein philosophisches ABC des Marathons, was aber erst „im Laufe” des Lesens erkennbar wird und zu einem „flaneurhaften” Vergleich einlädt (alle Zitate sind von Politycki bis auf die von Fredmund Malik und Tim Leberecht gekennzeichneten):
_ Alter
„… wie alt Marathonläufer auch sein mögen, ob 45 oder 55, sie haben nicht selten das Gefühl, 39 zu sein… Als ob … ein unendlicher Weg noch vor ihnen läge.”
Der Flaneur gibt sich dem Augenblick und der Zeit in Gelassenheit hin.
_ Ausdauer
„Das Entscheidende an einem Marathon ist nicht die Zeit, in der man ihn bewältigt. Das Entscheidende ist, daß man ihn auch wirklich gelaufen ist…”
„Noch nie hat jemand einen Marathonlauf gewonnen, weil er ‚gut vom Start weggekommen ist’. Der Trainer wird der Sportlerin zeigen, wie man Ausdauer aufbaut und wie man ein Rennen taktisch einteilt…” (Fredmund Malik: Wenn Grenzen keine sind. Management und Bergsteigen, 2014)
Der Flaneur unterbricht seine Spaziergänge nach Belieben, lange und kurze Distanzen spielen für ihn keine Rolle.
_ Bewegung
Bewegung unterliegt für den Marathonläufer einem Zweck.
Der Flaneur lässt sich absichtslos treiben und liebt die besondere Erlebnisqualität der Großstadt, die er mit hellwachen Sinnen beobachtet.
_ Gerade
„Auf der Geraden wartet nicht das Wunder, sondern dessen Gegenteil, die permanente Wiederholung – und damit die Sache selbst.”
Der Flaneur sucht Nebenwege, tritt lieber ins Abseits, um die Unruhe und ihre Fraglosigkeit in bewegenden Zeiten zu verstehen.
_ Glück
Das „kleine Glück am Wegesrand” interessiert Marathonläufer weniger als „das große Glück am Ende des Weges.”
Der Flaneur findet sein Glück „zufällig” an den Rändern des Weges.
_ Haltung
„… eine gute Körperhaltung stabilisiert auch die Psyche. Läufer, die den Kopf jetzt hängen lassen, verlieren das Ziel aus den Augen, wollen bloß noch durchkommen.”
Flaneure achten nicht so sehr auf ihre Körperhaltung – da ihr Weg nicht gerade ist, sind sie es selbst auch nicht.
_ Konzentration
Der Marathonläufer konzentriert sich auf eine einzige Sache.
Der Flaneur spielt mit der Ablenkung und erliegt ihr.
_ Körpersignale
Läufer horchen beim Laufen stets auf die Signale ihres Körpers: „Sie lauschen mit allen Sinnen in sich hinein, ein Knirschen im Kniegelenk wird sofort registriert, ein Stich in der Wade, ein Ziehen in der Hüfte, eine Verkrampfung des Nackens.”
Der Flaneur horcht vor allem auf die Außenwelt.
_ Originalität
„Wer lange Läufe macht, will weder originell sein noch gar sich originell geben.”
Flaneure wollen originell sein und suchen das Originelle in Dingen und Ereignissen.
_ Pause
„Praktisch jedoch ist das Loslassen, das Pausieren, für Läufer am allerschwersten.”
Flaneure machen Pause, um zu den Dingen auf Distanz zu gehen – allerdings nicht, um ihnen auszuweichen, sondern um schärfer zu sehen.
_ Training
„Ans Ziel kommt man nur, wenn man begriffen hat, daß das Rennen lange Monate vor dem Startschuß beginnt.”
Der Flaneur braucht kein Training, er geht einfach los – auch im Bewusstsein, niemals irgendwo anzukommen.
_ Das Überflüssige
Ein Läufer will „zum Laufwerk werden, leer werden. Solch puristisches Laufen ist mehr als bloße Fortbewegung, viel mehr.” Alles Überflüssige und Verspielte bleibt für ihn auf der Strecke, um das Wesentliche herauszuarbeiten.
Der Flaneur will „voll” werden und sammelt das Überflüssige auf.
_ Überraschungen
Marathonläufer lieben keine Überraschungen. Sie wollen, dass alles nach (Trainings-)Plan läuft.
Der Flaneur setzt auf das, was die Ordnung des Alltags durcheinanderbringt – deshalb seine Vorliebe für Überraschungen. Er braucht, um kreativ zu sein, die Offenheit für das Unerwartete.
_ Weg
„Der Weg ist das Ziel – auch bei den meisten Läufen… Das Ziel ist lediglich der Endpunkt einer Strecke, auf der Neuland zu erkunden ist. Der Weg ist das Ziel oder das Ziel ist das Ziel?”
_ Zeit
„Nicht zuletzt unsre Uhr hält uns vom Schlendrian ab, Ding gewordnes Läufer-Über-Ich, das jede sportliche Aktivität kontrolliert.”
Flaneure brauchen keine Uhr. Sie folgen ihrem inneren Zeitgefühl.
_ Ziel
„Das Ziel, der gesetzte Zweck des Marathonlaufs gibt dem Formlosen Form, macht aus dem Fragmentarischen ein Ganzes, verleiht dem Episodischen Kontinuität.”
Flaneure tauschen das Ziel gegen das Ideal einer unabsehbaren Entwicklung aus. Ziele erscheinen ihnen eher wie Ärgernisse, als Endpunkte und Hemmschwellen, an denen ihr innerer Schwung erlahmt.
Lächeln statt Hecheln
Es gibt aber auch Momente, in denen sich Flaneure und Läufer treffen, in denen vieles von dem, was streng geteilt schien, wieder zusammen fließt. Die Langeweile ist dafür eine wichtige Brücke.
Erst, wenn auch „all das Langweilige am Laufen” akzeptiert wird, schreibt Matthias Politycki, sei man für den Moment bereit, „wo die Ödnis der Strecke aufreißt und das Glück am Wegesrand freigibt.
Wer in einem akustischen Tunnel läuft und den Blick nur geradeaus hält, wird viele solcher Momente verpassen. Man muß beim Laufen schon auch latent Lust haben auf die Welt und nicht von vornherein alles wegfiltern, was linksrechts der Strecke in Erscheinung treten könnte.”
Beschrieben werden hier allerdings Genußläufer, die sich noch nach 30 km mit anderen Läufern unterhalten, manchmal stehen bleiben oder ein Selfie vor einer Sehenswürdigkeit machen.
Zufrieden eilen
Auch das Erleben des Flow-Zustands ist für Flaneure und Läufer mit ähnlichen Erfahrungen und Gefühlen verbunden. Fredmund Malik beschreibt diese Fähigkeit, „beinahe anstrengungsfrei, anscheinend endlos, weitermachen zu können”, in seinem Buch „Wenn Grenzen keine sind”.
Bei Skitouren nennt er dies „meditatives Gehen”. Kommt die absolute Stille hinzu, „weil der Schnee alle Geräusche außer die des eigenen Gehens und Atmens absorbiert”, entsteht das Gefühl vollständiger Harmonie von Bewegung, Fühlen und Denken mit der Umwelt: „Eins-Sein des Seins”.
Matthias Politycki erlebte etwas ähnliches, als er einen Wanderweg bergab lief. Alles ging wie von selbst. Dann hörte er sich plötzlich singen und war selbstvergessen wie ein Kind. Erst Wochen später erfuhr er, dass er ein „Runner´s High” erlebt hat.
Auch wenn er sich wissenschaftlich erklären lässt (Endorphinausschüttung nach extremer Belastung), so erlebte Politycki den Eintritt in den anderen Zustand als eine Art Erleuchtung.
Seit der Aufklärung – das zeigt auch sein Buch – laufen wir durch eine zunehmend entgötterte Welt. Umso intensiver genießen wir das Durchatmen, wenn der „permanente Daseinsrealismus” wenigstens in solch kostbaren „Auszeiten” ins Transzendente kippt.
Es scheint wie eine glückliche Fügung, dass Bücher wie die von Politycki und Leberecht zeitgleich erscheinen. Sie hintereinander zu lesen bedeutet, von der Geraden auf verzweigte Nebenwege zu wechseln, in geistiger Bewegung zu sein, aber auch zu akzeptieren, dass zum Denken genauso das Stillhalten der Gedanken gehört.
„So eile denn zufrieden!” schreibt Friedrich Hölderlin im Jahr 1800. Minimalistischer lässt sich das kluge Zusammenspiel von Ruhe und Unruhe, von Marathonläufer und Flaneur am „Ziel” eines Textes nicht ausdrücken.
Dieser Text erschien zunächst in der Huffington Post.