Warum olympische Werte unsere Gesellschaft bereichern
Für Leberecht ist die olympische Idee das, was wir in ihr sehen und aus ihr machen. Ihre Unzulänglichkeiten verleihen ihr ihre Romantik, erweitern unsere Vorstellungskraft und erwecken in uns die Sehnsucht nach mehr.
von Alexandra Hildebrandt
Herzschlag der Sieger
Die Aussicht auf Gewinn ist die Legitimation für ein Spiel, deren Regeln die Mittel dazu sind, die Spielsituation aufrechtzuerhalten. Effizienz und Profite rechtfertigen allerdings keine nachhaltigen Marktsysteme, „sondern weil Menschen zuallererst soziale und emotionale Wesen sind, denen Märkte eine gleichgesinnte Gemeinschaft für den sozialen Austausch bieten”. Tim Leberecht zitiert diesen Satz des Philosophen Robert C. Solomon in seinem Buch „Business-Romantiker” (Droemer Verlag, München 2015).
Nein, Business-Romantiker spielen kein komplett anderes Spiel, sondern nur nach anderen Regeln, die es womöglich besser machen. Denn sie haben begriffen, dass diejenigen, die mit der Gegenwart nicht einverstanden sind, „die Zukunft oft klarer sehen”.
Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga (1872-1945) definiert in seinem Buch „Homo Ludens” drei Aspekte: Spiel ist „freies Handeln”, es steht „außerhalb des Bereichs des direkt materiellen Interesses”, es ist „abgeschlossen”. Er sah darin ein Tun, das die Welt täglicher Notdurft und Lebenserhaltung „transzendiert”.
Geld und Sinngehalt, Kommerz und Kultur, Transaktion und Transzendenz – diese Spannungsfelder haben den Business- und Managementexperten Tim Lebrecht schon immer angezogen. Die Olympischen Spiele sind für ihn nicht nur Business as usual, sondern zugleich „die romantischste Idee, das romantischste Unterfangen, das man sich nur vorstellen kann”.
Für ihn ist die olympische Idee das, was wir in ihr sehen und aus ihr machen. Ihre Unzulänglichkeiten verleihen ihr ihre Romantik, erweitern unsere Vorstellungskraft und erwecken in uns die Sehnsucht nach mehr.
Die Olympischen Spiele sind für Leberecht auch vor dem Hintergrund der Bewerbung Hamburgs eine Riesenchance für gesellschaftliche Transformation:
„Es ist nach der Fussball-WM das meistkommerzialisierte Sport-Großereignis der Welt, und es ist natürlich leicht, über die Kompromittierung der olympischen Idee zu spotten und sich in Zynismus zu üben.” (Mail v. 24.7.2015)
Damit spricht er auch ein wichtiges Thema seines Buches an, denn Zynismus ist für den Business-Romantiker die größte Bedrohung, ja er ist die „Déformation professionelle der Geschäftswelt”.
Sich zu den Olympischen Spielen zu bekennen und „im Herzen des Kommerzes Authentizität und echte gemeinsame Verbundenheit zu finden”, ist nach Lebrecht eine Herausforderung für jeden Business-Romantiker, „der in einer Realität voller Grautöne nicht nur Schwarzweiß oder Rosarot denkt, sondern schlichtweg mehr Farben sieht” (Mail v. 24.7.2015).
Wenn dies gelingt, ist ein weiteres “Sommermärchen” möglich – und eine Gesellschaft, die Sehnsucht und Idealismus als treibende positive Faktoren anerkennt.
„Auch für die Marketing-Profession sind die Spiele eine Chance, zu sich selber zu finden, sich zu hinterfragen und neu zu erfinden. Und Manager können anhand der olympischen Idee lernen, Widersprüche nicht nur aufzulösen, sondern zu dulden und in produktive kollektive Emotionalität umzuwandeln (ebd.)”
Freundschaft in der Krise
Zu den olympischen Werten, die auch mit der Sehnsucht nach einem anderen Wirtschaftsleben verbunden sind, gehören für ihn Höchstleistung, Respekt und Freundschaft.
In seinem Buch verweist er auf eine Gruppe namens Lifeboat in den USA, die sich als Bewegung bezeichnet, die „tiefe Freundschaften zelebriert” und vor einiger Zeit eine Studie zur Lage von Freundschaften durchgeführte.
Danach ist nur ein Viertel der Erwachsenen mit ihren Freundschaften wirklich zufrieden – trotz der wachsenden Bedeutung von Social Network. Die meisten Amerikaner erklärten, dass sie lieber weniger, aber intensivere Kontakte hätten als eine Vielzahl an Freunden. Der Studie zufolge stecken Freundschaften in den USA sogar in einer „Krise”.
Wenn man sich bewusst macht, wie viel in Deutschland (vor allem in Bereichen, die mit großer medialer Aufmerksamkeit verbunden sind wie Politik und Sport) geherzt, getäschelt und gedrückt wird, um Zugehörigkeit und Sympathie zu signalisieren, dann kann auch hier durchaus von einer „Krise” gesprochen werden.
Denn die vielen Berührungen haben häufig mit Berechnung zu tun: Wer mit jemandem befreundet ist, der in der Öffentlichkeit Prominenz und Status genießt und dies ständig herausstellt, kann sein kleines, verkümmertes Sein gut hinter dem großen Schein verstecken.
In Unternehmen und Organisationen sind es vor allem Manager mit einem schwachen Selbstwertgefühl und mangelnder Kompetenz, die ihren Wunsch nach Freundschaft mit einer hierarchisch höhergestellten Führungsperson betonen.
Ein Beispiel dafür findet sich im Beitrag von Gabriele Fischer: „Diven-Dämmerung” (brand eins 2/2007): So sagte ein Marketingleiter aus dem mittleren Management nach dem ersten Zusammentreffen mit dem neuen Vorstandsvorsitzenden: „Das könnte mein Freund werden.”
Um sich gegenüber seinen Mitarbeitern nicht angreifbar zu machen, betonte er stets die Nähe zum Vorstand. Er gehört auch zu jenem Managertypus, der Menschen, von denen er einen persönlichen Nutzen erwartet, schnell duzt und sie in Gesprächen ständig anfasst.
Natürlich steckt im Berührungshunger auch ein menschliches Urbedürfnis, da wir ohne körperliche Nähe-Erfahrung seelisch zugrunde gehen würden. Das belegt auch der sehr lesenswerte Beitrag von Christopher Schwarz: „Freund, komm an meine Brust!”:
„Fast könnte man meinen, die erkältende Distanz, die den Menschen in modernen, westlichen Gesellschaften vom Mitmenschen trennt, solle im Akt der Umarmung, Wange an Wange, Körper an Körper, für einen Moment aufgehoben werden.” (WirtschaftsWoche 30/17.7.2015, S. 91)
Dennoch ist es wichtig, auch beim Freundschaftsthema genauer hinzusehen und misstrauisch zu werden, wenn zu viel Freundschaft „im Spiel” ist und missbraucht wird. Echte Freundschaft hat ebenfalls mit (Spiel-)Regeln zu tun, zu denen auch der richtige Umgang mit Nähe und Distanz gehört.
Wenn Tim Lebrecht von der Bedeutung der Freundschaft und der anderen olympischen Werte spricht, dann meint er das, was wir in ausgeprägter Weise auch im Fußball finden.
Hier gehört es dazu, dass sich Menschen regelmäßig um den Hals fallen. Emotionen und Umarmungen waren hier schon immer „zu Hause” (Christopher Schwarz). Und hier zeigt sich sehr offensichtlich, dass „Spielen” und „Schauspielen” nicht nur sprachlich miteinander verwandt sind.
Warum Bastian Schweinsteiger ein Romantiker ist
Der Philosoph Peter Sloterdijk bezeichnete Sportler in seinen „Ausgewählten Übertreibungen” (2013) als Schauspieler der körperlichen Performance. Ihre Muskeln werden auch unter einem artistischen oder künstlerischen Vorzeichen beansprucht.
Dazu passt die Aussage des Fußballprofis Bastian Schweinsteiger, dass sich sein Spiel auch auf andere Dinge konzentrieren würde, „wie zum Beispiel Athletik, Rhythmus, Genauigkeit, Ausdauer.” (FOCUS 50/2014, S. 153)
Es ist kein Zufall, dass die Chefredakteurin von BUNTE, Patricia Riekel, im Zusammenhang mit dem gereiften Weltmeister (den das People-Magazin beim Erwachsenwerden zusah) von „Gefühlstheater” spricht (BUNTE 30, 2015).
In vielen Medien wird er als jemand beschrieben, der seinen Fans immer näher war als viele andere große Spieler, der seinen Mitspielern ein Freund war und sich um die Integration der Neuen kümmerte (stern, 16.7.2015), der in der Nationalmannschaft immer wieder Vieraugengespräche suchte und seine Energie aus der Zuwendung zog, für die im modernen, von Widersprüchen zerrissenen Profifußball kaum noch Zeit bleibt (DIE ZEIT, 16.7.2015).
„Eiskalt und doch voller Geschichte, Tradition, Romantik. Ich meine, das neoliberale Wirtschaftssystem hat sich den Fußball wirklich gegriffen, auch ManU, der Neoliberalismus hat sich da ein schönes Spielzeug gesucht. Unser Wirtschaftssystem beruht auf Konkurrenz, Ausbeutung, auf dem Prinzip ‚Alle gegen alle’, und es wählt sich zu seinem Lieblingssport ausgerechnet ein Spiel, das auf Loyalität, auf Zusammenhalt basiert – denn der Fußball funktioniert nur, wenn diese Regel eingehalten wird.”
Dies schreibt der englische Dramatiker und Fußballfan Simon Stephens über Schweinsteiger und seine Zukunft bei Manchester United. Ob er das Buch von Tim Leberecht kennt? Seine Aussage, dass die Verpflichtung des Fußballers „wie mit der Axt ins Herz dieses Widerspruchs” haut, ist jedenfalls der beste Nachweis dafür, dass sein Verständnis von Romantik Wirtschaft und Gesellschaft heute gleichermaßen prägt.
Schweinsteiger ist dafür eine olympische Symbolfigur. Er „verkörpert diese aufregenden Zeiten im Fußball, in denen wir leben: Er spielt genau an der Schnittstelle von Kapitalismus und Romantik.” (DIE ZEIT, 16.7.2015)
Dieser Text erschien zunächst in der Huffington Post.