Wie wir dem Druck entkommen, immer gewinnen zu müssen
Interview mit Tim Leberecht
„Wir haben Angst zu verlieren“, beklagt Tim Leberecht, Gründer der Business Romantic Society. Er will die Arbeitswelt menschlicher gestalten. Denn wir sind keine Performance-Maschinen, die alles optimieren können, sondern verletzliche Wesen. Deshalb sollte es am Arbeitsplatz Raum für Emotionen und Rituale des Verlustes geben.
Das Gespräch führte Mike Kauschke
Sie haben das Buch “Gegen die Diktatur der Gewinner” (Droehmer HC 2020) geschrieben. Warum leben wir aus Ihrer Sicht in einer Diktatur der Gewinner? „Diktatur“ ist ja ein ziemlich starkes Wort.
Leberecht: Diktatur bedeutet im Grunde eine Gewaltherrschaft, in der physische oder militärische Gewalt ausgeübt wird. Es gibt aber auch psychologische Gewalt, und darauf beziehe ich mich. In unserer Gesellschaft ist das Diktat des Gewinnen-Müssens um jeden Preis das vorherrschende Prinzip.
Trotz vieler progressiver Veränderungen am Arbeitsplatz glaube ich, dass wir immer noch Angst davor haben zu verlieren. Wir haben Angst davor, das Gesicht zu verlieren, den sozialen Status zu verlieren, Macht zu verlieren, uns selber zu verlieren.
Aber wenn wir menschlicher sein wollen am Arbeitsplatz, wenn wir wirklich emotionalere, ganzheitliche Arbeitsplätze schaffen wollen, dann müssen wir uns genau anschauen, was es eigentlich bedeutet zu gewinnen und zu verlieren.
Das Verlieren ist eine Grundkonstante der menschlichen Existenz. Unsere Beziehungen sind nicht ewig. Unser Status ist vergänglich. Auch unser Leben ist begrenzt, wir werden es schlussendlich verlieren.
Diesen Verlust zu akzeptieren, gibt uns eine Demut und Bescheidenheit, durch die wir auch anders mit Management und Arbeit umgehen können. Wir können die Annahme hinterfragen, dass alles kontrollierbar ist und dass wir ständig alles optimieren müssen.
Es ist auch eine Frage des Narrativs: Welche Geschichte erzählen wir uns von uns selber? Fassen wir diese Geschichte binär in Gewinnen oder Verlieren? Vermeintliche Niederlagen wie eine Kündigung oder das Scheitern eines Projekts entpuppen sich oft mit zwei, drei Jahren Abstand als ganz entscheidende Momente, in denen wir viel gelernt haben, uns neu erfunden haben und aus ganz anderen Blickwinkeln gewachsen sind. Im Kontext der Arbeitswelt können wir dadurch langfristiger, nachhaltiger, menschlicher werden und so wirtschaften, dass es wirklich allen Stakeholdern dient.
Der menschlichste Arbeitsplatz erlaubt uns, auch mal traurig zu sein.
Wie sähe eine Arbeitswelt aus, in der das Verlieren nicht so einen schlechten Ruf hat?
Leberecht: Es fängt immer an mit der Haltung der Führungskräfte. Wir wissen von vielen Studien, dass die Zufriedenheit und das Wohlergehen am Arbeitsplatz ganz stark von den Beziehungen zu den Kollegen und Kolleginnen und vom Verhältnis zur Führungskraft abhängt.
Wenn diese in der Lage ist, ihre Emotionen zu zeigen, selber verwundbar und verletzlich ist, eigene Fehler eingesteht, auch sogenannte negative Emotionen wie Traurigkeit zu zeigen, dann ist mehr Raum für Menschlichkeit. Der menschlichste Arbeitsplatz ist nicht der, der uns immer glücklich macht, sondern der uns erlaubt, auch mal traurig zu sein.
Und wir können Rituale schaffen für das Verlieren. Es gibt zum Beispiel in Australien ein Unternehmen, wo man sich ganz bewusst mit dem Tod beschäftigt. Wenn Angehörige oder Freunde von Mitarbeitern sterben, dann kommt man am Arbeitsplatz zusammen, um darüber zu reden und gemeinsam zu trauern.
In den USA gibt es die Gesprächsreihe „Death over Dinner“, wo man beim Abendessen mit Fremden über den Tod redet, also den ultimativen Verlust. In Europa gibt es die sogenannten „Fuck Up Nights“, wo Führungskräfte von ihren größten Fehlern, Niederlagen und Irrtümern erzählen. Das schafft Vertrauen und psychologische Sicherheit.
Mit dem „House of Beautiful Business“, der Community, die ich mitgegruendet habe, veranstalten wir Silent Dinner, also schweigsame Essen, wo wir mit Führungskräften einfach nur in Stille miteinander essen. Das schafft Raum für eine zärtliche emotionale Beziehung zueinander.
Wir sehen einander dann nicht als die Performance-Maschinen, die immer perfekte Ergebnisse abliefern und suggerieren müssen, dass sie alles unter Kontrolle haben, sondern wir können auch die Brüche zulassen. Und genau in diesen Brüchen finden wir auch neue Ideen und Inspirationen.
Durch Digitalisierung wird die Wirtschaft immer schneller, unkontrollierbarer, unvorhersehbarer. Wie sehen Sie das Verlieren in diesem Kontext?
Leberecht: Künstliche Intelligenz, Automatisierung und Digitalisierung helfen uns, die Prozesse zu optimieren, also alles berechenbarer zu machen. Die einzige Unberechenbarkeit, die bleibt, ist der Mensch. Doch die Pandemie und auch viele andere nahende Katastrophen wie die Klimakatastrophe zeigen uns, dass wir völlig die Kontrolle verloren haben und nichts berechnen können.
Viele Unternehmen haben ihre Drei-Jahres-Pläne einstampfen müssen, als Covid begann. Sie haben gelernt, dass sie viel kurzfristiger und agiler denken müssen. Das Gefühl, mit Management die Welt vermessen und kontrollieren zu können, ist ein fataler Trugschluss.
Wir müssen vielmehr mit dem Flow gehen, improvisieren, uns ständig anpassen. Und bei der Digitalisierung begreifen wir zunehmend, dass die Unberechenbarkeit des Menschen wichtig ist, um der daueroptimierten Tyrannei der Algorithmen etwas entgegenzusetzen.
Wachstum ist menschlich, darf aber nicht zu Ungerechtigkeit führen.
Wir befinden uns in einem wirtschaftlichen System, das ganz stark am Wachstum orientiert ist. Wie sehen Sie ein Wirtschaftsleben, das die menschlichen Brüche miteinbezieht, im Kontext solch eines wirtschaftlichen System?
Leberecht: Wachstum ist glaube ich zutiefst menschlich. Wir wachsen alle körperlich und geistig und verändern uns ständig. Wachstum per se ist für mich keine negative Vokabel. Ich denke auch, dass der Kapitalismus mit Wachstumsprinzip und Wettbewerb aus menschlichen Qualitäten schöpft, die viel Wohlstand erzeugt haben.
Das Problem ist aber die Kluft zwischen Arm und Reich. Hier sind systemische Politik-Instrumente wie das universelle Grundeinkommen sehr interessant. Oder Initiativen wie die Purpose Foundation in Berlin, die ein Konstrukt geschaffen hat, bei der ein Unternehmen nur noch dem Purpose dient und nicht den Shareholdern.
Denn der Shareholder Value und die Gewinnmaximierung lassen selbst den moralischsten CEO verzweifeln, weil er rechtlich dazu verpflichtet ist, auf die Gewinnmaximierung für die Shareholder zu achten.
In den USA gibt es eine Initiative namens „Return to Community“, wo sich Unternehmen verpflichten, einen Teil des geschaffenen Wohlstands an die Community abzugeben. In Australien und Neuseeland werden auch der Natur Shareholder-Rechte zugebilligt.
Es gibt viele Modelle des inklusiven Wachstums wie die neuen ESG Investments Standards („Environmental, Social and Government“), nach denen Investoren jetzt vermehrt schauen und ökologische und soziale Gesichtspunkte beachten. Ganz zu schweigen vom Web 3.0, wo mit Blockchain und Kryptowährungen, definiert werden kann, welcher Wert geschaffen wird.
Dabei sind Netzwerkeffekte oder Zugang zu Wissen die entscheidenden Kategorien. Es gibt also viele Dinge, die sich gerade grundlegend verändern; wir werden in zehn Jahren eine stark veränderte Art des Wirtschaftens erleben als heute.
Verlusterfahrungen auszudrücken hilft, Raum zu schaffen für Neues.
Wie kann jeder Mensch im eigenen Arbeitsalltag eine Kultur des Verlierens einüben?
Leberecht: Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, sich erst mal selbst zu erkennen. Das haben manche in der Pandemie getan. Sie haben nach innen geschaut und festgestellt, „Ich war in diesem Hamsterrad gefangen und habe immer nur nach den Regeln anderer gelebt.“
Angestellte kündigen oder denken darüber nach. In Asien und jetzt auch weltweit gibt es die Bewegung „Lying Flat“, wo sich vor allem jüngere Arbeitnehmer einfach auf den Boden legen und sagen: „Ich will mich nicht mehr überarbeiten, das ist nicht das Leben, das ich mir vorstelle.“
Das sind extreme Protestformen, aber es zeigt eine gewisse Leere, die wir mit Produktivität oder mit Arbeitserfolg nicht füllen können. Daher auch der Trend zu Achtsamkeit und zu Körperlichkeit. Immer mehr Menschen im Business üben Yoga oder tanzen am Arbeitsplatz
Es ist also wichtig, sich mit Fragen zu beschäftigen wie: Wer bin ich eigentlich? Was will ich? Wie viel von mir bringe ich am Arbeitsplatz mit ein? Wie will ich da auftreten? Welchen Raum will ich füllen? Welchen Raum gebe ich anderen?
Manager und Teamleiter haben die Verantwortung und auch die Macht, ein anderes Vokabular einzuführen und sich einfach mal eine Stunde Zeit zu nehmen, um einen Social Space aufzumachen, um über Themen zu reden, über die man sonst nicht spricht.
Das sind alles kleine Schritte, aber wenn wir uns das zu Herzen nehmen, in uns hineinhören und anderen zuhören, dann können wir eine andere Kultur schaffen.
Wir schaffen Rituale des Verlustes, und dann gehen wir weiter.
Sie bezeichnen sich als „Business Romantiker“. In welchem Zusammenhang steht das mit Ihrer Idee des Verlierens?
Leberecht: Was ich an der Romantik so spannend fand, war, dass es damals eine Gegenbewegung zur Aufklärung und wissenschaftlichen empirischen Vernunft war. Ich wollte hinterfragen, warum wir uns so leichtgläubig den Daten als objektiver Wahrheit anvertraut haben.
Es ist eine Konfrontation zwischen der Daten-Rationalität und einer Form von Dasein, die begreift, dass wir komplexe Wesen sind, dass wir unberechenbar sind, dass wir mysteriös sind. Das erinnerte mich an die Kritik der Romantik am empirischen Rationalismus.
Die Idee des Verlierens ist eine psychologische Weiterentwicklung dieses Themas. Die Romantiker waren auch sehr gut im Verlieren, sie konnten sich in sich selbst verlieren, sich mit der Natur verbunden fühlen. Sie wollten sich nicht konform verhalten und wollten andere Wahrheiten und Bedeutungsschichten miteinbeziehen.
Mir ging es mit dem Buch auch um eine menschlichere Wirtschaft, aber angesichts der Klimakrise, der Pandemie und anderer größerer Zusammenhänge reicht dieser Fokus nicht mehr. Wir müssen die Natur noch viel mehr in den Mittelpunkt stellen und uns mit einer neuen Bescheidenheit als Teil eines größeren Systems begreifen.
Die Erfahrung von Verlust und Verlieren sind mit heftigen Emotionen verbunden. Wie können wir die Erschütterung, die damit einhergeht, konstruktiv oder kreativ nutzen?
Leberecht: Rituale sind extrem wichtig, um einen Container zu schaffen. Wir haben mit im „House of Beautiful Business“ beispielsweise einen Beerdigungs-Marsch gemacht für Ideen, die nie das Licht der Welt erblickt haben. Wir haben die Ideen, die nie verwirklicht wurden, verbannt und die Asche ins Wasser geworfen.
Solche kleinen spielerischen Rituale können den Verlust bedeutsam machen und dieses Kapitel beenden: Wir ehren das, was passiert ist und was wir vielleicht auch verloren haben, und dann gehen wir weiter.
Es geht darum, Raum dafür zu schaffen, sonst schleppen wir diese Erfahrungen mit uns herum und sie werden unterdrückt und bleiben unausgesprochen. Solche unterdrückten Gefühle führen dann irgendwann zum Burnout oder in die Depression. Wir müssen diese Verlusterfahrungen ausdrücken und ritualisieren. So machen wir den Raum frei für neue Erfahrungen.
Tim Leberecht ist ein weltweit tätiger Berater und Autor sowie ein Vordenker für einen neuen Humanismus vor dem Hintergrund von Digitalisierung, Automatisierung und Künstlicher Intelligenz. Mitgründer und Co-CEO des House of Beautiful Business. Zuvor war er Chief Marketing Officer von NBBJ, einer internationalen Architektur- und Design Firma. Von 2006 bis 2013 war er in gleicher Position bei Frog Design in San Francisco tätig.
Leberecht ist Autor des Buches „Business-Romantiker: Von der Sehnsucht nach einem anderen Wirtschaftsleben“ (2015), Mitherausgeber des „Book of Beautiful Business“ (2019) und veröffentlicht in Publikationen wie Harvard Business Review, Fast Company, Fortune, Psychology Today,
Süddeutsche Zeitung oder Wired. Sein neues Buch „Gegen die Diktatur der Gewinner“ erschien 2020 bei Droemer. www.timleberecht.de
www.houseofbeautifulbusiness.com
Das Interview erschien in Ethik heute.