Wir berauben uns des Menschseins!
Der Autor Tim Leberecht verrät, warum Romantiker auch im Job erfolgreich sind und wann Algorithmen uns gefährlich werden.
Herr Leberecht, seitenweise Excel-Tabellen bearbeiten und stundenlang in stickigen Besprechungsräumen konferieren: Das ist der Alltag vieler Arbeitnehmer. Was hat das mit Romantik zu tun?
Herr Tim Leberecht: Erst mal nichts. Denn zu oft reduzieren wir uns auf unsere Rolle als Homo oeconomicus. Wir versuchen Entscheidungen rein rational zu treffen, arbeiten den Aktenberg möglichst effizient ab und sind nur am Profit orientiert. Aber es ist Zeit, dieses Bild des coolen, abgebrühten, pragmatischen Managers infrage zu stellen. Der Homo oeconomicus ist schließlich nur eine Facette des Menschen, und darauf sollten wir uns nicht reduzieren lassen.
Genau. Aber um es deutlich zu sagen: Business-Romantiker sind keine Gutmenschen. Ihnen geht es darum, alle Facetten des Menschseins in ihrer Arbeit auszuleben. Denn wir verbringen bis zu 70 Prozent unserer Zeit mit dem Job. Wie schon die romantische Bewegung im 18. Jahrhundert wenden sich auch die modernen Romantiker gegen die Vernunft, ziehen die Individualität und die subjektive Wahrheit der Objektivität vor. Business-Romantiker sehnen sich nach dem Abenteuer Arbeit und intensiven Erlebnissen. Langeweile ist ihr Feind, und hinter Langeweile verbirgt sich oft eine Fixierung auf das Berechenbare.
Das sehe ich anders. Natürlich geht es um Profit, und es liegt mir fern, die Mechanismen der Marktwirtschaft infrage zu stellen. Dennoch halte ich die Wirtschaft für ein emotionales Feld und somit für eine wunderbare Arena, um unsere romantischen Sehnsüchte auszuleben. Unternehmen, in denen Romantiker wichtige Positionen besetzen und die es schaffen, ein romantisches Verhältnis zu ihren Mitarbeitern und Kunden aufzubauen, werden langfristig erfolgreicher sein. Und wenn Menschen sich mit ganzem Herzen einbringen, dann ist das ein unbezahlbarer Wettbewerbsvorteil.
An welche Unternehmen denken Sie?
Apple natürlich oder auch Virgin. Sehr interessant finde ich auch den Elektroautohersteller Tesla. CEO Elon Musk ist ein Visionär, der wie die alten Romantiker keine Angst vor großen Träumen hat oder gegen Konventionen und rein rationales Handeln aufzubegehren – die Möglichkeit des Scheiterns immer inbegriffen. Er zieht auch potenzielle Kunden in den Bann.
Solche Charismatiker sind die Ausnahme…
Bei jedem Vertragsabschluss sind Emotionen im Spiel, denn jedes Geschäft wird zwischen Menschen geschlossen. Und wenn wir auf unser Berufsleben zurückblicken, werden wir uns nicht an die Höhe eines abgeschlossenen Millionenvertrags erinnern.
Sondern?
Daran, wie wir gezittert haben, ob die Gegenseite unseren Vorschlag akzeptiert oder mit welchen Worten wir sie überzeugt haben. Kleine Momente, derer wir uns einfach nur bewusst werden müssen und die erst aus der Entfernung groß werden. All die Momente, in denen wir etwas Neues gewagt, etwas die Kontrolle verloren und die Welt mit „frischen Augen“ gesehen haben, wie das Marcel Proust formulierte.
Wie können wir solche Momente in unseren Arbeitsalltag einbauen?
Indem wir die Routine für einen Moment durchbrechen. So schaffen wir kleine Abenteuer, nach denen wir uns immer wieder sehnen, weil wir uns durch sie lebendig fühlen. Das ist auch der Grund, warum wir in exotische Länder reisen oder Extremsportarten machen.
Sie glauben, ein normaler Arbeitstag kann so aufregend sein wie eine Rafting-Tour?
Ja. Nehmen Sie doch mal all die Gründer im Silicon Valley. Sie sind so etwas wie moderne Goldgräber, die nicht nur das Gold suchen, sondern auch das Abenteuer. Eine romantische Sehnsucht hat sie dorthin getrieben. Sie wollen sich ausprobieren, an ihre Grenzen gehen.
Einverstanden. Aber was ist mit dem normalen Angestellten?
Wenn man eine neuen Stelle antritt, kommt einem alles aufregend vor, man erlebt ständig Neues, vielleicht sogar Euphorie wie zu Beginn einer Liebesbeziehung. Einige Studien haben aber festgestellt, dass nach etwa sechs Monaten Routine einkehrt. Alles ist vorhersehbar: jeden Morgen die gleiche Konferenz, die gleichen Telefonate.
Und was soll ich daran ändern, wenn nicht den Job wechseln?
Versuchen Sie, den Zauber der ersten Verliebtheit wiederherzustellen. Seien Sie ein Fremder, wie an Ihrem ersten Arbeitstag. Verlassen Sie gewohnte Bahnen, begeben Sie sich außerhalb Ihrer Komfortzone. Das beginnt schon mit dem Weg zur Arbeit. Sprechen Sie zum Beispiel Ihren Sitznachbarn in der Bahn an.
Und das soll helfen?
Ja. In den USA gab es dazu neulich ein Experiment: Eine Gruppe sollte Fremde in der Bahn ansprechen, die andere nicht. Das Ergebnis: Diejenigen, die mit Fremden gesprochen hatten, waren glücklicher.
Und wenn ich im Büro angekommen bin?
Könnten Sie alle paar Tage Ihren Schreibtisch wechseln. Die Werbeagentur Barbarian Group in New York hat einen einzigen langen Schreibtisch, der sich durch das ganze Büro schlängelt und buchstäblich ständig neue Perspektiven ermöglicht. Bei anderen Unternehmen können Arbeitnehmer Zusatzaufgaben übernehmen, für die sie eigentlich nicht qualifiziert sind. Machen Sie ständig Dinge zum ersten Mal!
Welche anderen Tricks gibt es noch?
Treffen Sie sich beispielsweise in kleinen, geheimen Arbeitsgruppen.
Geheimnistuerei? Nicht die beste Voraussetzung für gedeihliche Zusammenarbeit.
Es ist ein Irrtum, zu glauben, Transparenz sei ein Allheilmittel für eine inspirierende Unternehmenskultur. Wenn alles immer durchsichtig ist, wird der Alltag langweilig. Unternehmen brauchen Kontraste und Subkulturen, ihren eigenen Untergrund. Innovationen entstehen zum Großteil im Geheimen. Nicht umsonst empfehlen Innovationsforscher U-Boot-Projekte zu starten – also mit einer verschworenen Truppe etwas Neues voranzutreiben und Vorgesetzte erst einzuweihen, wenn Ergebnisse vorliegen. Unternehmen wie Accenture fördern bewusst sogenannte Intrapreneurs, die innerhalb ihrer Firmenstrukturen neue Denkweisen anstoßen und sich fast schon wie ein exklusiver Geheimbund inszenieren.
Woher kommt diese Sehnsucht nach Exklusivität?
Es ist nicht so sehr eine Sehnsucht nach Exklusivität, sondern nach echtem menschlichem Kontakt und Intimität. Ich denke, sie ist eine Gegenbewegung zu dem, was wir in den sozialen Medien erleben. Wir haben Hunderte Facebook-Freunde, die jeden ihrer Schritte teilen, von denen wir wirklich Persönliches aber nur selten erfahren. Business-Romantiker bevorzugen deshalb zum Beispiel Geschäftsessen im kleinen Kreis.
Zerstört die Digitalisierung diese Romantik?
Nein, so würde ich das nicht sagen. Ich bin nicht gegen Technologie. Ich warne nur vor einer allzu naiven Technikgläubigkeit. Wenn unsere Handlungen nur noch auf Algorithmen und Big Data basieren, beginnen wir uns selbst outzusourcen.
Passiert das nicht längst?
Es gibt Tendenzen. Wir haben Apps, die unsere Glücksmomente am Arbeitsplatz tracken, analysieren und anhand derer wir unseren Arbeitstag optimieren können. Es gibt sogar eine Anwendung namens „Meeting Mediator“, die erfasst, wer in einer Sitzung am meisten redet.
Was ist daran schlimm, wenn Daten uns helfen, unseren Arbeitstag zu optimieren und richtige Entscheidungen zu treffen?
Natürlich machen Apps unser Leben oft einfacher. Aber ich habe Angst davor, dass wir unsere Intuition durch Algorithmen ersetzen. Damit berauben wir uns der Unberechenbarkeit, der Zweifel, die das Menschsein ausmachen. Wenn alles berechenbar wird, ist nichts mehr spannend. Wir sind dabei, die Romantik aus unserem Leben herauszuprogrammieren. Wir erleben eine neue „Entzauberung der Welt“. Der Soziologe Max Weber hat diesen Begriff zu Beginn des letzten Jahrhunderts im Zuge der Industrialisierung geprägt. Jetzt ist es die Datafizierung, die unsere Arbeitswelt entzaubert.
So erschreckend das für den Einzelnen sein mag, für die Unternehmen sind diese Datenberge doch ein Segen…
Daten können uns Antworten auf die richtigen Fragen anbieten, aber neue Fragen können nur Menschen stellen. Eine wichtige Erkenntnis, gerade im Bereich der Innovation.
Das müssen Sie erklären.
Radikale Innovationen wie das iPhone oder das Geschäftsmodell von Airbnb kommen nicht von Maschinen und entstehen nicht aus der Analyse von Kundendaten. Sie sind ihrer Zeit so weit voraus, dass sie nur auf der menschlichen Einbildungskraft basieren können. Sie kommen von Visionären, die den romantischen Glauben an eine andere Welt hatten und sich aufgemacht haben, diese zu bauen – oft sogar wider besseres empirisches Wissen. Ohne dieses romantische Prinzip und den Glauben an Wahrheiten abseits von Daten drehen wir uns einfach nur im Kreis. Innovationen sind dann nur noch Recyclingprodukte von dem, was wir schon kennen.
Dieses Interview erschien ursprünglich in der WirtschaftsWoche.