“Wir dürfen nicht alles am Resultat messen”
Tim Leberecht plädiert gegen ergebnisorientierte Führung und glaubt, dass Irrwege ein Hauptmerkmal der Innovationskultur sind.
Tim Leberecht ist Unternehmer und Autor sowie einer der prägnantesten Vordenker für einen neuen Humanismus in Wirtschaft und Gesellschaft. Er ist Mitgründer und Co-CEO des House of Beautiful Business. Sein neues Buch „Gegen die Diktatur der Gewinner: Wie wir verlieren können, ohne Verlierer zu sein“ erschien vor wenigen Tagen.
Verlieren gehört zur Arbeitswelt dazu, Scheitern ist kein Makel. Tim Leberecht plädiert gegen ergebnisorientierte Führung und glaubt, dass Irrwege ein Hauptmerkmal der Innovationskultur sind. Im Rahmen der NWXnow, dem neuen digitalen Format zur Zukunft der Arbeit, haben wir ihn zum Interview getroffen.
FailForward ist ja inzwischen zum Buzz Word geworden. Was ist da eigentlich dran?
Tim Leberecht: Das Fail Forward haben viele deutsche Unternehmen von ihren Silicon-Valley-Expeditionen mitgebracht. Ich selbst habe dort vierzehn Jahre gelebt und habe die Unterschiede zu Deutschland erlebt. Es gibt den schönen Spruch: „American failure is American success“. Wenn ein Startup scheitert, eine Idee oder ein Projekt, dann sieht man das eher wie eine Ehrenmedaille. Das schafft Anerkennung und man kann durchaus ein zweites oder drittes Mal bei Investoren vorsprechen, weil die Reputation durch den Rückschlag nicht vernichtet ist. In dieser Entrepreneur-Kultur sind Abenteuerdrang und Risikofreudigkeit Qualitäten, die geschätzt werden. In Deutschland ist das Scheitern sowohl kulturell als auch rechtlich anders gelagert. Wer bankrott geht, hat Probleme, wieder neu an den Start zu gehen. Aber es hat sich schon sehr viel geändert, auch durch den Einfluss der Start-up-Kultur und die Digitalisierung.
Fail Forward ist ursprünglich eine Idee des Design Thinking als Ausdruck eines schnellen, iterativen Prozesses, bei dem man nicht mit einem bis ins Detail ausgeklügelten Plan Produkte und Services entwickelt, sondern sich schrittweise dem Optimum annähert. Das Flugzeug in der Luft bauen, sozusagen. Das bedeutet, dass man immer wieder Experimente durchführt, Features testet, und im Falle des „schnellen Scheiterns“ schnell anpasst.
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Im NWXnow-Videocast spricht Astrid Maier mit Tim Leberecht über die kalte Seite der durchoptimierten Welt und den Tabubruch, Verletzlichkeit als Stärke zu begreifen. Das Gespräch beleuchtet, wie wir rücksichtslose Ideologien ablegen und gerade als Führungskräfte um uns herum eine Arbeitskultur schaffen, in der uns Rückschläge nicht mehr lähmen, sondern unser Menschsein zurückkehrt.
Wie gelingt es im Berufsleben, rücksichtslose Ideologien abzulegen und eine Arbeitsatmosphäre zu erschaffen, in der uns Rückschläge nicht mehr lähmen, sondern unsere Leidenschaft anspornen?
Tim Leberecht: Das ist eine Frage der Unternehmenskultur. Google’s Moonshot Factory X zum Beispiel belohnt Mitarbeiter von Projekten, die abgebrochen wurden und nicht zu marktfähigen Produkten oder Technologien führten. Der Mut, auch mal Zeit zu verschwenden, also Irrwege gehen zu dürfen, ist ein Hauptmerkmal von Innovationskultur. Wenn alles nur effizient ist, wenn alles nur auf Optimierung und sofortigen Return on Investment und Machbarkeit abgeklopft wird, dann wird man nicht wirklich innovativ sein. Dann bleibt man immer in den relativ langweiligen, sicheren Bahnen des Konventionellen.
Was Scheitern ist oder ein Fehler, was als Misserfolg oder was als Erfolg gilt, ist natürlich höchst subjektiv. Es ist eine Frage, wie man Erfolg definiert und welche Maßstäbe man anlegt. Wir müssen wegkommen von einer rein ergebnisorientierten Kultur und Experimentierfreudigkeit belohnen, ohne dass wir alles direkt am Resultat messen.
Was für Erfahrungen hast Du persönlich mit Rückschlägen gemacht?
Tim Leberecht: Als ich 2015 meinen Job als Chief Marketing Officer bei einer großen Architekturfirma in San Francisco verlor, war das schon sehr seltsam. Das kam nicht ganz unerwartet, weil ich damals gerade mein erstes Buch schrieb und wahrscheinlich gefühlt auch schon ausgecheckt hatte. Aber dennoch, das war eine herbe persönliche Niederlage. Und das erste Mal, dass meine Karriere eine echte Delle bekam.
Aber dann ist mir aufgefallen, dass mir die Symbole des Erfolges und der Macht schon zu wichtig geworden waren – einen Assistenten oder eine Assistentin zu haben, einen C-Level-Titel, einen Bonus. Dass ich sogar einen Großteil meiner Identität darüber definiert hatte. Und ich stellte mir die Frage: Was ist mir wirklich wichtig? Ich habe damals begriffen, dass ich der Grund dieser Trennung war, weil ich einfach nicht mehr mit meinem ganzen Herzen bei der Sache war. Daraus habe ich für mich die Schlussfolgerung gezogen, nichts mehr zu machen, wo ich nicht mit hundert Prozent dabei bin.
Aber das war nicht der einzige Rückschlag. Ich habe ganz am Anfang meiner Karriere auch Musik gemacht, hab zwei Platten veröffentlicht, die letztendlich aber nicht besonders erfolgreich waren. Seit 2017 bin ich unternehmerisch tätig und als Entrepreneur macht man ständig einen Schritt vorwärts und immer wieder auch einen Schritt zurück, weil Partnerschaften nicht klappen oder Kundenprojekte ausfallen. Man muss das Positive sehen, sich immer wieder aufrappeln und es von neuem versuchen. Hartnäckigkeit unterscheidet langfristig die erfolgreichen Unternehmer von denen, die aufgeben. Es gab auch immer mal wieder Punkte, wo mein ganzer Lebensentwurf in Frage gestellt wurde. Aber dadurch lernt man auch, dass man sich ständig neu erfinden kann und muss. Das wird in der Arbeitswelt der Zukunft für uns alle noch viel wichtiger werden. Wir können nicht mehr eine Rolle ausfüllen, die konstant über Jahre hinweg gleichbleibt. Solche Karrierewege gibt es nicht mehr.
Was sind Deine Tipps für Führungskräfte, um in der Arbeitswelt einen Wandel im Umgang mit Fehlern voranzutreiben?
Tim Leberecht: Grundsätzlich, glaube ich, müssen wir uns verabschieden von dieser rein ergebnisorientierten Art zu führen. Die Führungskraft der Zukunft lebt keine Schwarz-Weiß-Kultur mehr, bei der ausschließlich objektive Performance-Kriterien angewandt werden.
Wenn nur das Ergebnis zählt, dann macht man keine Umwege mehr, sondern geht über den kürzesten Weg und das oft auf Kosten der Ethik.
Außerdem brauchen wir nicht nur mehr weibliche Führungskräfte, sondern eine Feminisierung der Führungskultur an sich. Es sind feminine Qualitäten gefragt, die einer immer noch zutiefst Macho-geprägten Management-Kultur wirklich guttun würden: Empathie, Kollaboration, Nachdenklichkeit sowie die Fähigkeit, Mehrdeutigkeit und Komplexität auszuhalten anstatt schnell eine eindeutige Lösung zu produzieren. Das bedeutet, dass Führungskräfte nicht immer sofort Antworten und Lösungen parat haben müssen, dass sie auch Fragen stellen dürfen und zugeben können, dass sie nicht wissen, wie es weiter geht. Das Management hat uns über Jahrzehnte suggeriert, dass sich mit der richtigen Information und einem kühlen Verstand alle Sachverhalte lösen lassen. Das ist eine völlige Illusion, weil Unternehmen und die Wirtschaft hoch emotionalisierte und irrationale Bereiche sind.
Wie gelingt es, der Schockstarre einer Niederlage zu entkommen und sich an die Aufarbeitung von Fehlern und Veränderungen zu machen?
Tim Leberecht: Aus meiner Sicht ist es ganz wichtig, dass man eine Niederlage nicht verdrängt oder unter den Teppich kehrt, sondern sie als eine Art Katharsis annimmt. Das muss man nicht öffentlich kommunizieren, aber man sollte sich selbst absolut ehrlich damit beschäftigen, was gerade passiert ist. Das ist wie mit anderen Trennungen oder Verlusten im Leben, man muss sich die Zeit nehmen zu trauern. Andererseits geht es darum, das Ganze zu objektivieren. Klar sind wir Menschen, aber wir sind natürlich auch nur kleine Teilchen im großen Ganzen. Wenn es gelingt, das Geschehene zu kontextualisieren, dann kann man auch besser damit klarkommen.
Außerdem sollte man die Chance wahrnehmen, Sachen besser zu machen als beim letzten Mal und sich von seinem Perfektionismus verabschieden. Es gibt sie einfach nicht, die tadellose Performance, es gibt keine makellose Leistung, es gibt nicht das Projekt, das hundertprozentig perfekt laufen wird. Es wird immer Probleme, unerwartete Schicksalsschläge und Rückschritte geben.
Und wie motiviert man sich wieder für den nächsten Schritt?
Tim Leberecht: Sich einfach wieder neu verlieben, eine neue Idee finden, für die man brennt. Wenn man es sich finanziell und zeitlich erlauben kann, sollte man jetzt herausfinden, was man wirklich machen will. Etwas, wofür es sich lohnt, 75 Prozent der wachen Stunden seines Lebens am Arbeitsplatz zu verbringen.
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Tim Leberecht: Gegen die Diktatur der Gewinner: Wie wir verlieren können, ohne Verlierer zu sein; Droemer HC; 1. Auflage 2020
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Die digitale Formatreihe NWXnow ist, analog zur NEW WORK EXPERIENCE, das Forum für die Diskussion zur Zukunft der Arbeit. Die NWXnow beinhaltet Videocasts, bei denen Fachleute aus Gesellschaft, Wirtschaft und Politik über den Wandel der Arbeitswelt sprechen, spannende Artikel, Hintergrundinformationen, Interviews, Online-Workshops, Live-Talks und vieles mehr. Die zentrale Fragestellung: Was kommt, was bleibt und was verändert sich?
Dieses Interview erschien auf XING NXW Now.