Ist die digitale Gesellschaft ein Automatismus? Und wie digital werden wir wirklich irgendwann leben und arbeiten – zum Beispiel wenn der Kapitalismus an sein Ende gekommen ist?
Darüber haben sich zahlreiche intelligente Menschen bereits Gedanken gemacht. Einer davon ist der Soziologe Armin Nassehi, mit dem ich neulich das Vergnügen hatte, ein Streitgespräch zu führen. Seine scharfsinnige „Theorie der digitalen Gesellschaft“ (so der Untertitel seines Buches „Muster“) findet derzeit zu Recht viel Beachtung. Darin vertritt er, sehr verkürzt gesagt, die These, dass die Digitalisierung nur deshalb so erfolgreich sei, weil es bereits seit Jahrhunderten ein Streben danach gebe, menschliche Strukturen und Regelmäßigkeiten zu erkennen und nutzbar zu machen. Die Digitalisierung sei also eigentlich – anders als von vielen Menschen empfunden – keine Störung unserer Routinen, sondern helfe uns, unser Potenzial erst richtig auszuschöpfen.
Wir stritten uns weitaus weniger, als wohl geplant, aber in einem Punkt widersprach ich ihm dann doch: Ich glaube nicht, dass digitales Denken – oder, wie er es nennt, „Mustererkennung“ – ausreichen wird, um in einer digitalen Gesellschaft zu florieren. Zudem wehre ich mich dagegen, die digitale Gesellschaft als ein Faktum anzusehen, das wir einfach so akzeptieren müssen.
Die Digitalisierung ist unaufhaltsam, das ist klar, aber die digitale Gesellschaft ist eine Geschichte, die wir uns erzählen, und kein Automatismus. Wir haben (immer noch) beachtliche Gestaltungsmöglichkeiten und brauchen dringend neue kollektive Narrative. Allerdings bedarf es dazu radikalerer Maßnahmen und mehr Fantasie, als wir üblicherweise für digitale Transformation und New Work aufwenden.
Unternehmen müssen sich wappnen, nicht nur für technologische Disruption
Es gibt sie ja bereits, die ersten sichtbaren Widerstände gegen das System an sich: von der digitalen Überforderung zur digitalen Erschöpfung, vom anschwellenden Techlash zu Europas neuer Rolle als selbstbewusstem Tech-Superregulierer. Zudem ist das Silicon Valley schon längst keine Pilgerstätte mehr für deutsche Managementteams. Die digitalen Modelle haben stattdessen zu einer großen Ernüchterung geführt. Big Tech ist vom Weltenretter zum Gesellschaftszerstörer mutiert, der unsere Identität und demokratische Solidarität aufs Spiel setzt und uns eine Überwachungsökonomie aufgezwungen hat, in der mehr Transparenz nicht mehr Vertrauen, sondern mehr Kontrolle bedeutet.
Dazu kommen grundsätzliche Zweifel an der Überlebensfähigkeit des Kapitalismus, die zuletzt ja sogar führende CEOs dazu brachte, die Gewinnmaximierung für Aktionäre als das alles überragende Handlungsprinzip für Unternehmen zu relativieren. Wie weit verbreitet die Zweifel an einem „Weiter so“ sind, zeigt nicht zuletzt auch die Tatsache, dass sich weltweit Millionen Menschen gegen die Klimakrisenapathie mobilisieren lassen, angetrieben von Greta Thunberg, Fridays for Future oder den Aktivisten von Extinction Rebellion.
Den Unternehmen wird inmitten all dieser neuen Disruptionen ein nahezu unmöglicher Spagat abverlangt: Zum einen müssen sie die Digitalisierung weiter voranzutreiben, um nicht komplett den Anschluss zu verlieren an die aggressive Plattformökonomie US-amerikanischer und chinesischer Prägung. Zum anderen müssen sie dringend über digitale Transformation und New Work hinausdenken und sich wappnen für den nächsten großen Paradigmenwechsel, den postdigitalen Postwachstumskapitalismus.
Statt nach Effizienz sollten wir nach Schönheit streben
Im Kern bedeutet dies vor allem auch das Ende eines absoluten Effizienzdenkens. Wenn wir Digitalisierung sagen, meinen wir ja in der Regel Effizienz. Wer sonst keine Vision hat, der ist immerhin effizient. Effizienz schafft aber nichts Neues, teilt lediglich auf und verbraucht nur Existierendes. Wer in Effizienz investiert, investiert in ein endliches Nullsummenspiel.
Das Gegenstück zu Effizienz ist Schönheit. Schönheit war einst ein gesellschaftliches Prinzip, eine moralische Grundfeste zivilisierter Gesellschaften. Im Streben nach Schönheit liegt eine Kernqualität menschlichen Daseins. Wenn wir im Einklang mit der Natur und anderen Lebewesen koexistieren wollen, brauchen wir ästhetische Intelligenz, um einen Begriff der amerikanischen Managerin und Autorin Pauline Brown zu verwenden. Und ästhetische Intelligenz, das ist nicht nur eine sinnliche Erfahrung, nicht nur hübsche und harmonische Kosmetik, sondern eine Weltsicht, die Schönheit als einen moralischen Standpunkt begreift, der jedem Menschen nicht nur ein produktives Leben, sondern ein schönes Leben ermöglichen will. Eine postdigitale Postwachstumsökonomie muss unbedingt schön sein.
Mit Empfindsamkeit gegen Effizienz und Wachstumswahn
Ich nenne das Beautiful Business. Schöne Unternehmen verschreiben sich konsequent dem Gemeinwohl und verankern dies in ihren Bilanzzielen, wie es die B-Corps (Benefit-Corporations), zu denen beispielswiese Patagonia oder auch die Berliner Designfirma The Dive zählen, tun. Sie halten sich an die Prinzipien der sogenannten Zebrasbewegung, die ihre inklusiven und ethischen Wachstumsstrategien dem exponentiellen Wachstum der Unicorns diametral gegenüberstellt. Es sind diese Start-ups, für die sozial-ökologischer Impact wichtiger ist als Profit, wie es Barack Obama zuletzt auf der Konferenz Bits & Pretzels in München gefordert hatte, aber eben auch etablierte Firmen, die sich durch eine klare Haltung auszeichnen und insbesondere auch politische Flagge zeigen, wie es Alexander Birken, CEO der Otto Group, oder auch die Digitalagentur Torben, Lucie und die gelbe Gefahr nach den rechtsextremen Ausschreitungen von Chemnitz demonstriert haben.
Darüber hinaus verbinden schöne Unternehmen Ethik und Ästhetik mit emotionaler Sensibilität. Sie sehen und spüren mehr. Sie streben ein höheres Bewusstsein an, das sie von Ego zu Öko(system) führt und grenzüberschreitend kollabieren lässt. Schöne Unternehmen fordern keine Kompetenzen, keine Skills mehr ein, sondern Mindsets und Empfindsamkeit. Diese Empfindsamkeit beruht auf einer Wertschätzung für „emotionale Granularität“ – einer Vorstellung von Emotionalität, die über schablonenhafte Affekte hinausgeht, wie sie die Algorithmen der digitalen Plattformen oder etwa auch die Vertreter von sogenannter emotionaler KI leider so oft propagieren.
Paradoxerweise ist es eben kein digitales Denken, das in digitalen Systemen besonders gefragt ist, sondern analoges. Es werden daher jene Unternehmen (als Arbeitgeber und Marken) florieren, die einerseits Identität stiften und gleichzeitig vielschichtige und sich teils auch widersprüchliche Identitäten zulassen können und bei denen Vielfalt von der Ethno- zur kulturellen und bis zur Neurodiversität reicht.
Schöne Unternehmen wissen, warum sie existieren, wofür sie stehen, was ihre „Theorie des Wandels“ ist und wie sie unter Achtung ethischer Prinzipien die extremste Version ihrer selbst sein können, ja eine Bewegung werden können, deren Produkte wie Glaubenssätze sind. Man könnte auch sagen, im Beautiful Business der Zukunft werden jene Unternehmen erfolgreich sein, die nicht nur Muster erkennen, sondern vor allem sich selbst.