Die super-quantifizierte Amazon-Welt beraubt uns
Tim Leberecht im Interview mit Etailment
Von Olaf Kolbrück
Dicke Datenpakete alleine reichen nicht. Anders als viele Evangelisten aus dem Silicon Valley hältTim Leberecht, Autor des internationalen Bestsellers „Business Romantiker”, nichts vom Diktat des Digitalen und vom Datenfetisch. Auf dem etailment Summit am 29. September in Frankfurtsagt der Business-Vordenker aus dem Valley, welche Führungsstrategien wirklich gefragt sind und wie man mit Romantik besser durch die digitale Arbeitswelt kommt. Im Interview mit etailment erklärt er, warum Manager mehr Gefühle wagen sollten und eine super-quantifizierte Amazon-Welt nicht mehr lebenswert wäre.
In Ihrem Buch vom „Business-Romantiker“ empfehlen Sie, dass sich Manager und das Unternehmen mehr von Gefühlen leiten lassen. Sollen Manager also mehr Rilke, Novalis oder Eichendorff lesen, als Biographien über Jeff Bezos oder Elon Musk?
Tim Leberecht: Das kann ganz sicher nicht schaden, ja! Aber sie sollten sich nicht nur mit Romantikern beschäftigen, sondern mit jeder Art von Literatur und Kunst, die außerhalb ihres Kerngeschäfts liegt. Zum anderen halte ich es grundsätzlich für wenig sinnvoll, die Erfolgsgeschichten anderer zu studieren. Das ist so eine Eigentümlichkeit, die mit der Harvard Case Study-Methode Einzug in das Management gehalten hat: zu glauben, dass sich die Kulturen, Verhaltensweisen und Entscheidungen von anderen einfach so auf das eigene Unternehmen, das eigene Team übertragen lassen. Für Strategie und Geschäftsprozesse mag das ja noch erkenntnisreich sein, aber wenn es um Innovation geht, dann kommt es vor allem darauf an, eine Vision zu artikulieren, die Vorstellungskraft zu stärken und eigene Ideen zu entwickeln.
Da hilft dann keine Erfolgsgeschichte anderer, sondern nur die Fähigkeit, die eigene Geschichte zu schreiben. Dazu jedoch bedarf es Inspirationen aus verwandten und vor allem auch entlegeneren Disziplinen. Mein ehemaliger Chef, Hartmut Esslinger, der Industriedesigner und Gründer von Frog Design, hat mir einmal geraten: „Wenn Du das Business verstehen willst, geh‘ in die Oper!“ Heute noch übertrage ich automatisch Szenen aus Filmen oder Büchern in Situationen aus der Geschäftswelt – für mich gibt es da keine Trennung. Es ist alles ein Teil der großen menschlichen Unternehmung.
In einer Zeit, in der an die Allmacht der Daten geglaubt wird, plädieren Sie für mehr Gefühl. Das klingt erst einmal nicht nach Aufbruch?
Tim Leberecht: Oh doch, gerade, weil es ja so unangemessen scheint, die Gefühle wieder verstärkt ins Spiel zu bringen in einer Zeit, in der sich viele auf der vermeintlichen Sicherheit der Daten ausruhen. Gefühle waren immer schon die disruptivste Kraft in allem unseren Tun, nur versuchen wir das oft auszublenden, insbesondere in der Wirtschaft. Eine menschlichere Form des Wirtschaftens zu wollen, um überhaupt als Mensch noch handlungsfähig zu bleiben im Zeitalter der künstlichen Intelligenz und Automatisierung, das halte ich durchaus für einen spannenden und lohnenswerten Aufbruch!
“Wenn Du das Business verstehen willst, geh‘ in die Oper!”
Wenn Studien vorhersagen, dass im Jahre 2030 die Hälfte aller Jobs automatisiert sind, d.h. von Software oder Robotern übernommen werden (und das betrifft nicht nur mechanische Tasks, sondern zunehmend auch Wissensarbeiten), dann stellt sich doch die Frage, welche Formen der Arbeit wir Menschen überhaupt noch erledigen können, welche Problemstellungen und Aufgaben allein von menschlicher Intelligenz gelöst werden sollten. Alles effizienzgetriebene wird von Maschinen übernommen werden, und für uns Menschen bleibt dann nur, was subjektiv gemacht werden kann: extrem sein; leidenschaftlich, gefühlsam und einfühlsam; irren, wirren, flanieren; Zeit verschwenden; träumen, simulieren, andere Realitäten und Parallelwelten schaffen. Nur wir Menschen können andere Welten und Geschichten erfinden. Und was ist Innovation anderes als eine neue Geschichte.
Um mit technologischer Disruption Schritt zu halten brauchen wir eine neue „sentimentale Erziehung“, müssen wir unser Repertoire an Emotionen kultivieren und möglicherweise erweitern. Emotionen sind die Grundlage für Vertrauen, Kreativität und Phantasie; sie sind die unsichtbare Währung unseres Wirtschaftens.
Deswegen brauchen wir eine neue romantische Bewegung! Wie die Romantiker des 18. und 19. Jahrhunderts – Novalis, Eichendorff, William Blake oder Lord Byron – aufbegehrten gegen den Alleinanspruch der Vernunft und empirischen Wahrheit, so müssen wir jetzt aufbegehren gegen die Entzauberung der Welt durch die Ökonomisierung und nun zunehmend auch die Datafizierung und Quantifizierung unserer Identitäten und Beziehungen, weit über den Arbeitsplatz hinaus. Wir brauchen wieder mehr Romantik in unserem Leben, und Business ist dafür die perfekte Bühne und der effektivste Schalthebel.
Es fällt schwer, an die Macht von Gefühlen zu glauben, wenn man den Erfolg von datengetriebenen Unternehmen wie Amazon oder Zalando sieht?
Tim Leberecht: Es kommt darauf an, wie wir Erfolg definieren. Bei Amazon zu arbeiten macht den wenigsten Freude. Das Arbeitsklima ist miserabel, wenn man den Berichten Glauben schenken darf. Und über den gesellschaftlichen Mehrwert von Amazon lässt sich trefflich streiten. Abgesehen von den teilweise inhumanen Arbeitsbedingungen in den Lagerhallen sowie den fatalen Folgen für Einzelhändler (und nicht zuletzt unsere Städte) macht die Amazon’sche Customer Experience unsere Alltagskultur flacher und dünner, raubt ihr Tiefe und Fülle.
“Die Amazon’sche Customer Experience macht unsere Alltagskultur flacher und dünner, raubt ihr Tiefe und Fülle.”
Wenn Bequemlichkeit und Effizienz zum alleinigen Kriterium werden, dann finden wir uns schnell in einer durchautomatisierten, kalten Gesellschaft wieder, die nur noch auf rasche Bedürfniserfüllung aus ist, irgendwann dann auch nur noch via Drohne.
Möchten Sie in einer super-optimierten, super-quantifizierten Amazon-Welt leben? Ich nicht.
Was können Manager womöglich besser, wenn sie mehr Gefühl und Leidenschaft zulassen?
Tim Leberecht: Sie können besser managen und führen. Leadership bedeutet für mich heutzutage vor allem zweierlei: zum einen die Fähigkeit zu inspieren. Inspiriert zu sein bedeutet verliebt zu sein. Und gleichermaßen gilt: Inspirieren kann nur der, der sich in Ideen verlieben und Visionen formulieren kann, d.h. die Welt so sieht, wie sie nicht ist, aber sein könnte. Das ist dem Wesen nach eine romantische Qualität.
Zum anderen umfasst Leadership heute die Fähigkeit mit Unsicherheit, Mehrdeutigkeit und permanentem Wandel umgehen zu können, Lineare, prozessorientierte Denkweisen reichen da nicht mehr aus. Anstelle des traditionellen MBA-Mindsets müssen die Führungskräfte von morgen auch Künstler sein und analytische mit kreativen Skills verbinden können, und zwar ständig, von einer Minute auf die andere, mittendrin in einem Projekt oder einem Meeting, da nunmehr in derLiquid Economy ständig alles im Fluss ist.
Die Zukunft ist zu komplex, um sie noch berechnen zu können. Wir müssen sie erträumen, erfinden, neu zusammensetzen. Nicht zuletzt das ist die Stärke von Art Thinking, Design Thinking oder anderen interdisziplinären Denkschulen, die eine holistischere Sichtweise auf das Business fordern. Mehr Gefühle und Leidenschaft zuzulassen, ist die Grundvoraussetzung für all dies.
Bringt das auch eine bessere Work-Life-Balance mit sich?
Tim Leberecht: Ich mag den Begriff Balance nicht. Der Begriff der Arbeit ändert sich in der digitalen Gesellschaft drastisch, und Konzepte wie Sharing Economy oder Gig Economy verwischen zunehmend die Grenzen zwischen Privat- und Arbeitsleben. Es geht es für mich daher eher um Work-Life Integration und wie wir am besten unsere Menschlichkeit und Integrität in einer hochdynamischen Wirtschaftswelt bewahren können. Wir wissen, dass die meisten Menschen dabei vor allem Flexibilität und Autonomie schätzen. Vor diesem Hintergrund sind Tele-Commuting, Co-Working oder Co-Living Spaces (zuletzt in den USA sehr stark im Kommen durch Startups wie Rainbow Mansion, PodShare oder Common, aber auch in Deutschland durch die Design Offices-Kette und andere Konzepte) zeitgemäßer als formale Trennungen zwischen Work und Life.
Business-Romantiker lieben vor allem Intensität, Abenteuer und Vielfalt, und wichtiger als Work-Life Balance ist für sie, dass sich Arbeit und Leben miteinander zu einer einzigartigen Geschichte verweben, die nie langweilig, nie zur Routine wird.
Geht es am Ende nicht doch nur um eine höhere Produktivität und mehr Effizienz – nur diesmal unter dem Gedanken der Romantik?
Tim Leberecht: Das ist eine berechtigte Sorge, und auch eine, die mich umtreibt. Ich lebe nun seit 13 Jahren in den USA, und hier ist der Impuls, neue Ideen und Philosophien sofort zu instrumentalisieren sicher stärker. Letztlich sind die USA eben eine sehr eng ausgerichtete, transaktionale Marktgesellschaft, im Gegensatz zu den vielschichtigeren europäischen Gesellschaften, in denen Arbeit einen anderen Stellenwert hat und dem Privatleben grundsätzlich mehr Raum zugestanden wird. Hier: Live to work, dort: Work to live – das mag ein Klischee sein, ist im Kern aber zutreffend.
“Mir geht es um eine menschlichere Wirtschaftserfahrung.”
Zudem hat der Begriff der Romantik in Europa, und insbesondere in Deutschland, eine ganz andere Bedeutung, und man denkt mehr an Poesie und Geistesgeschichte als an Valentine’s Day und „Dating“. In den USA wird Business-Romantik gerne missverstanden als love what you do, do what you love. Aber mir geht es eben nicht um eine Anleitung zur Selbsthilfe mit dem Ziel einer harmonischen, produktiveren Firmenkultur, sondern um eine dichtere, intensivere, authentischere und deswegen letztlich auch menschlichere Wirtschaftserfahrung.
Die romantischsten, die schönsten Organisationen sind für mich die, die Hässlichkeit zulassen. Am Herzen liegt mir weniger die Erfüllung persönlicher Bedürfnisse als Bedingung unternehmerischen Erfolges, sondern die Sehnsucht nach mehr Sehnsucht, und wie wir sie in der Wirtschaft verorten können. Anders ausgedrückt: Für mich ist Romantik kein Mittel zum Zweck, sondern der Zweck.
Sicher wird sich das nicht immer so puristisch 1:1 umsetzen lassen, und Unternehmen müssen zunächst durch extrinsische, konkrete Nutzen- und Renditerechnungen motiviert werden, bevor sie überhaupt eine alternative Definition von Mehrwert zulassen und dann schließlich auch implementieren. Es ist ein langer Weg dorthin – aber er lohnt sich.
Muss man dafür nicht auch Dinge wie Erfolg, Scheitern, die Unternehmenskultur gar, umdefinieren?
Tim Leberecht: Auf jeden Fall. Wichtig ist zu begreifen, dass Unternehmen vor allem Kulturen sind. Unternehmenskultur ist also keine Funktion des Unternehmens, sondern ist das Unternehmen. Firmen wie Vitra verstehen das, wenn sie betonen, dass sie zuvorderst ein „kulturelles Projekt“ sind. Im Falle von Vitra ist das naheliegend, angesichts des Designer-Anspruchs, des eigenen Museums, und des von Star-Architekten entworfenen Campus. Schön wäre, wenn sich aber auch Firmen aus anderen Industrien dazu bekennen würden, kulturelle Projekte, oder Sinnfabriken, zu sein.
Das bedeutet nicht, dass diese Unternehmen nicht wirtschaftlich operieren sollten, aber Wachstum oder Profit allein reichen heute einfach nicht mehr aus als Grundlage nachhaltigen, gesellschaftlich legitimierten Wirtschaftens. Schauen Sie sich den „Shitstorm“ an, nachdem Pharmakonzern Mylan die Preise für seine Anti-Allergiemedikamente EpiPen erhöhte. Mylan CEO Heather Bresch sagte schlicht: „I have to run a business,“ mit Verweis auf ihre Verantwortung gegenüber den Shareholdern. Aber das ist heutzutage nicht mehr gut genug. Die Frage für CEOs lautet vielmehr: Wofür setzen wir Wachstum und Profit ein? Was ist unsere eigentliche Mission? Was wollen wir in der Welt hinterlassen?
Und wo beginnt man damit?
Tim Leberecht: Einfach anfangen! Entweder radikal (mit dem richtigen Visionär an der Spitze oder notgedrungen durch existentielle Krisen), oder schrittweise (mit kleinen Ritualen und Experimenten). Ein Unternehmen ist wie ein See: Unter der Oberfläche gibt es verschiedene Strömungen. Wenn Sie einen Stein reinwerfen, ändert sich die Struktur schlagartig, wenn auch nur kurz, und das System rekonfiguriert sich, und es entsteht eine völlig neue Anordnung.
Aber wie schafft man in einem Unternehmen Raum für Romantik?
Tim Leberecht: In meinem Buch präsentiere ich sogenannte „Regeln für Business-Romantiker“ sowie ein Einsteigerpaket, das konkrete 15 Schritte vorschlägt. Die Regeln reichen von „Gib mehr als du nimmst“ zu „Hüte das Geheimnis“ zu „Tu so, als ob“ bis hin zu „Steh still und tue nichts.“ Alle diese Regeln hinterfragen typische Konventionen. Letztlich geht es bei allen Regeln darum, das Vertraute wieder fremdartig, ja sogar etwas seltsam zu machen. Kleine Manipulationen, kleine „Hacks“, kleine Tabubrüche wirken da buchstäblich Wunder.
“Kleine Tabubrüche wirken Wunder.”
Begreifen Sie Projekte als romantische Geschichten mit offenem Ausgang, trotz unserer Versuche, alles zu berechnen und vorherzusehen. Fragen Sie sich jeden Tag: Wenn ich nur sechs Monate hier wäre, was wäre meine größte Hinterlassenschaft für die Organisation? Fangen Sie an, sofort an der zu arbeiten.
Gibt es aktuelle Vorbilder in Unternehmen für die der „romantische Manager“ kein Schimpfwort wäre?
Tim Leberecht: Oh ja, einige, obwohl ich nicht weiß, ob sie sich selber als Romantiker bezeichnen würden: Sir Richard Branson natürlich. Elon Musk. Emmanuel Faber, der CEO von Danone. Rolf Fehlbaum, der ehemalige CEO und jetzt Chairman von Vitra. Und natürlich Jürgen Klopp!
In meinem Buch stelle ich außerdem sieben Business-Romantiker vor, unter anderem einen ehemaligen Siemens IT-Marketingleiter, den Besitzer eines Berliner Szene-Cafes und den Erfinder und Produzenten der Musikfernsehshow TV Noir.
Was zeichnet diese Menschen aus?
Tim Leberecht: Ein Business-Romantiker sucht nach unermesslich Schönen im Profanen, und er sucht ständig nach mehr Bedeutung – in allem. Er vertraut seiner Intuition und seinen Gefühlen ebenso wie Daten und rationaler Analyse. Er trifft Entscheidungen stets auch mit dem Herzen, nicht nur mit dem Verstand. Er handelt sogar manchmal irrational, gegen die Gesetze der Logik. Er ist mehr Künstler als homo faber, mehr Kreativer als Analytiker. Er weiß, dass es da immer noch verborgene Welten gibt, die im Tiefen schlummern, die wir nicht vermessen und kommerzialisieren und vielleicht sogar überhaupt nicht berühren sollten. Er hat Dinge, die ihm heilig sind. Er verliebt sich Hals über Kopf in neue Ideen und Initiativen, und ist mit dem ganzen Herzen bei der Sache, auch wenn das manchmal wehtut.
Tim Leberecht: Der perfekte Manager ist der unperfekte Manager
Der Business-Romantiker ist also das Gegenstück zum Zyniker, der „den Preis von allem kennt, aber den Wert von nichts“ (Oscar Wilde) und sich hinter vorauseilender „Ach, das wird ja eh nix“ Resignation verschanzt. Der Business-Romantiker wendet sich auch ganz entschieden gegen jenen Datenanalysten, die glauben, in den Daten eine alleingültige, objektive Wahrheit gefunden zu haben.
Wie sieht für Sie der perfekte Manager, das perfekte Unternehmen aus?
Tim Leberecht: Der perfekte Manager ist der unperfekte Manager. Das perfekte Unternehmen ist das unperfekte Unternehmen. Mit anderen Worten: Ich würde mir mehr Manager wünschen, die ihre Schwächen offen zur Schau stellen und Unternehmen als kulturelle Projekte, soziale Experimente und kollektive Erzählungen verstehen. Die besten Unternehmen sind romantische Abenteuer: Aufbrüche zu neuen Ufern, Grenzerfahrungen.
Wie viel Romantik und Transparenz ist denn gut?
Tim Leberecht: Ein gesundes Maß ist gut. Das gilt für beide Konzepte. Wenn alles romantisch ist, ist letztlich nichts mehr romantisch. Romantische Momente müssen die Ausnahmen bleiben, Besonderheiten, ansonsten verlieren sie an Wert. Ähnliches gilt auch für Transparenz. Wenn alles transparent ist, ist Transparenz kein Differenzierungsmerkmal mehr.
“Ich würde mir mehr Manager wünschen, die ihre Schwächen offen zur Schau stellen.”
Gerade die so populäre Forderung nach mehr „radikaler Transparenz“ bereitet mir da Kopfzerbrechen. Transparenz darf nicht zum kleinsten gemeinsamen Nenner werden. Radikale Transparenz bedeutet ja permanente Öffentlichkeit, und ich denke, es ist wichtig, dass wir uns Rückzugsräume und Geheimnisse bewahren. Nicht alles, was gedacht und gefühlt wird, muss auch gesagt und gezeigt werden. Das Geheimnis ist die notwendige Voraussetzung für Intimität und Individualität. Und übrigens auch für Innovation.
Auch bei Markenstrategien und Customer Experiences lässt sich feststellen, dass Transparenz nicht immer die ultimative Allzweckwaffe ist. Vertrauen schafft man mit der richtigen Mischung. Derzeit sind insbesondere „Mystery“-Formate stark im Kommen, weil sie sich stark abheben von der Inflation der Transparenz: von Secret Cinema („mystery screenings“ von Filmen), Secret Supper Clubs (geheime Dinner-Parties), Mystery Messaging-Apps, Mystery Travel-Reisen mit unbekanntem Ziel oder unbekannten Begleitern, zu Secret Commerce – exklusive Marktplätze mit der Aura des Mysteriösen. Für alle diese Formate gilt die Formel: Wenn Du mit etwas Aufmerksamkeit erregen willst, verstecke es!
Ganz praktisch gefragt: Wie soll ich meine Arbeit gestalten, wenn ich mir ein wenig empirische Vernunft erhalten, aber auch kreative und emotionale Freiräume schaffen will?
Tim Leberecht: Die Mischung muss stimmen. Es geht natürlich nicht ohne empirische Vernunft. Aber ebenso wenig ohne Emotionalität und ohne Irrationalität. Viele Projekte scheitern daran, dass wir im Geschäftsleben nur die Spitze des Eisbergs sehen wollen – das, was wir messen, verstehen, analysieren und augenscheinlich managen können. Wir sind vergleichsweise ungeschult im Managen des Eisbergrumpfs, der im Wasser verborgen bleibt. Das Unsichtbare, Vage, Mehrdeutige und eben auch Irrationale ist viel schwieriger zu navigieren, aber oft viel entscheidender.
“Wir dürfen uns nicht hinter Zahlen, Rollen und Schablonen verstecken.”
Beziehungen, Gefühle, Sehnsüchte, und Träume sind die eigentlichen Antreiber unserer Wirtschaft. Laut einer Umfrage des Fortune-Magazins glauben 65 Prozent aller Fortune 500 Manager, dass Entscheidungen nicht länger alleine auf der Grundlage logischen Denkens und rationaler Datenanalyse getroffen werden können. Diverse Studien besagen, dass kreative, emotionale und soziale Intelligenz zunehmend zu entscheidenden Wettbewerbsfaktoren werden. Aber dafür müssen wir erst einmal bereit sein, verletzlich zu sein, und dürfen uns nicht hinter Zahlen, Rollen und Schablonen verstecken.
Jeder Mitarbeiter kann sich diese Freiräume selber schaffen, in der Art und Weise, wie er seine Arbeit erledigt. Und natürlich hängt sehr viel davon ab, welches Verhalten der Chef vorlebt und honoriert. Smarte Manager schaffen ganz bewusst Raum für Zeitverschwendung, für Experimente, für Intimität. Sie widerstehen der Versuchung, ihr ganzes Handeln dem Effizienzdenken unterzuordnen und tun bewusst stets mehr als nur das Notwendige. Sie schaffen immer einen Überschuss an Bedeutung.
Dieses Interview erschien in Etailment.