Verlieren ohne Imageverlust
Tim Leberecht wirbt seit Jahren für mehr Humanismus in Wirtschaft und Gesellschaft. Mit seinem neuen Buch stemmt er sich gegen die "Diktatur der Gewinner".
von Marcus Schuster
Diese Woche erscheint ihr Buch „Gegen die Diktatur der Gewinner: Wie wir verlieren können, ohne Verlierer zu sein“ (Droemer, 256 S., 20 Euro). Darin kritisieren Sie die Leistungsgesellschaft mit ihrem ungebremsten Wachstumsdenken, in der Verlierer als Versager gelten. Hat die Corona-Krise Ihre Thesen überholt, weil wir nun quasi über Nacht alle gelernt haben, zu verlieren?
Im Gegenteil, die Corona-Krise hat ihre Relevanz noch erhöht. Wahrscheinlich hat nun auch der Letzte verstanden, dass wir nicht unverwundbar sind – sondern dass wir am Ende trotz aller Pläne relativ wenig Kontrolle über unser Leben haben. Zudem hat die Pandemie schonungslos alle strukturellen Krisen aufgedeckt: die externen Nebenkosten des Kapitalismus, das wachsende soziale Ungleichgewicht sowie die Entfremdung von der Natur und die nahende Klimakatastrophe. Sie hat all diese Entwicklungen wie mit dem Brennglas verschärft und uns daran erinnert, welche radikalen Veränderungen notwendig sind, angefangen mit unserer Haltung zum Verlieren.
Warum fallen uns Niederlagen und Rückschritte so schwer?
Das Gewinnen ist so etwas wie der Quellcode unserer Gesellschaft. Es ist jedem Menschen angelegt, sich weiterzuentwickeln und Reichtum, Macht und Wissen anzueignen, als eine Art Grundreflex gegen den ultimativen Verlust: den eigenen Tod. Von Niederlagen kann man sich erholen, aber das Gefühl ein Verlierer zu sein ist lähmend.
Vielen Menschen geht es nicht um Wachstum und Optimierung – sie sind froh, wenn sie durch ihre Arbeit irgendwie überleben. Sind sie für ein Zeitalter des Verlierens, wie Sie es beschreiben, besser gerüstet?
Klar ist jedenfalls, dass wir eine neue Bescheidenheit brauchen – dazu gehört der Verzicht auf Konsum und die Rückkehr zu einem wesentlicheren Leben und die Bereitschaft Dinge aufgeben zu können. Diese emotionale Flexibilität wird insbesondere für Wissensarbeiter am Arbeitsplatz immer wichtiger werden. Dazu zählt auch die Fähigkeit, Mehrdeutigkeit und Komplexität auszuhalten und auch den Kontrollverlust zu ertragen Diese Qualitäten werden bei Führungskräften zukünftig zur Schlüsselkompetenz.
Bedeutet das global betrachtet, dass Deutschland und Europa seinen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Abstieg besser heute als morgen akzeptieren sollte?
Europa wird es schwer haben im globalen Wettbewerb der KI-Supermächte USA und China. Aber unsere große Stärke – und das hat die Corona-Krise nochmals deutlich gezeigt – ist Qualität durch Solidarität. Menschlich ist eine Gesellschaft dann, wenn sie uns erlaubt zu verlieren, ohne Verlierer zu sein.
Sie benennen Künstliche Intelligenz und die Klimakatastrophe als die künftigen großen Niederlagen der Menschheit. Wenn wir jetzt aber bescheiden und weniger fortschrittsgetrieben agieren, produzieren wir doch auch Opportunitätskosten, in dem Sinne, dass bestimmte Innovationen ausbleiben, die uns vielleicht in Zukunft retten.
Die Frage ist doch, welche Art von Fortschritt wir wollen. Wenn wir uns auch in Zukunft der Gewinnmaximierung und dem Gewinnen-müssen verschreiben, werden wir es im Umgang mit KI und Klimawandel schwer haben. Gefragt ist eine völlig neue Definition von Fortschritt und von individuellem Erfolg, die mit der Verletzlichkeit des Menschen und der Natur beginnt. Dies wird die entscheidende Innovation sein. In meinem Buch beschreibe ich, wie dies aussehen könnte: vom Bedingungslosen Grundeinkommen zu einer neuen Kultur der Melancholie bis hin zu Geschichten und Ritualen, die uns das Verlierenkönnen lehren.
Dieses Interview erschien im Börsenblatt.